Es ist das so ungewöhnliche wie erwartbare Buch eines ungewöhnlichen und durch die Jahre immer die hohe Note der eigenen Qualität haltenden Autors, eines Dichters von sehr besonderen Graden. Thomas Böhmes Bände erscheinen, beginnend mit Mit der Sanduhr am Gürtel, seit vierzig Jahren, sie waren stets überraschend und im besten Sinne en vogue und gleichzeitig jenseits der dräuenden Zeit-Schichten angesiedelt. Der 1955 in Leipzig Geborene ist seiner Stadt stets treugeblieben, hier ankert seine Lebensmitte und geht doch immer wieder auf einen weiten Flug hinaus.
Grünlaken, der neue Roman Thomas Böhmes, folgt den Gedichtbänden Abdruck im Niemandswo (2016) und Strandpatenschaft (2021), die gleichsam im Leipziger Poetenladen-Verlag erschienen und die ebenso wie das neueste Opus zugleich (und das ist ein von Beginn an verfolgtes Prinzip des Verlegers Andreas Heidtmann, dessen Arbeit vielfach besprochen, geehrt, ausgezeichnet wurde) schöne Bücher sind, die das Herze des Sammlers und Bücherverrückten, wie er sich im weiten Rund der Pirckheimer-Gesellschaft wieder und wieder finden dürfte, höher schlagen lassen.
Wie die vorausgegangenen Bände Böhmes bei Heidtmann ist auch dieser in ein Gewand gehüllt, das für das Erscheinungsbild des Verlags elementar ist: Das Cover von Grünlaken gestaltete Miriam Zedelius, deren Arbeit gewissermaßen als eine der wichtigen Erkennungsmarken des Poetenladen (der auch als Webseite und in Form einer Zeitschrift, die lange Poet hieß und mittlerweile Poet*in heißt, existiert) anzusehen ist und unter dessen Ägide auch eine der schönsten Poesie-Editionen Deutschlands erscheint: die Reihe Neue Lyrik, hrsg. von Jayne-Ann Igel und Jan Kuhlbrodt, in der, gefördert vom Freistaat, auch das jüngste Gedichtbuch Thomas Böhmes (s. o.) sich findet.
Auch innen sind die Bücher des Verlags von vorzüglicher Schönheit, bestechend gesetzt, die Kapiteltitel auf andersfarbigen Seiten. Und unter dem (zumeist) Schutzumschlag verbirgt sich ein schönes, handfestes Hardcover in perlendem Farbkontrast. So ist es auch bei Grünlaken. Der dem Unkonventionellen wie dem Magisch-Realistischen eng anverwandelte Plot geht in sieben Notizheften, die sich jeweils in kleine Unterkapitel portionieren, sowie Verhörprotokollen wie aus dem Nachbild eines Landes geschnitten, das sich wie eine „faule Birne“ in den Kontinent wölbt, der „Allegorie auf den Verlust von Welt“ nach, wie er dem Protagonisten des Buchs, Adrian Gallus, widerfährt. Es ist dabei ein Stück Abenteuerliteratur wie eine poetische wie au point gesetzte Bestandsaufnahme der im Moment allgegenwärtigen Weltzerkrümlung zugleich.
Und ein so aufrüttelndes, in der Würde agitierendes wie sie beschwörendes Stück Literatur im besten Sinne zugleich: „Ihr alle, die ihr euer Ziel niemals erreichen werdet, lasst euch nicht irre machen von den windigen Propheten, die euch Palmenstrände mit weißen Hotels und Drachenfischen vor Sonnenuntergängen versprechen! Ihre Pisten sind von Kadavern gesäumt, die Hotels auf Schutthalden errichtet, an den Küsten hört ihr die Klageschreie von Vögeln mit verklebtem Gefieder und nachts raubt euch das Geheul der Turbinen, der Gestank aus Kloaken und das Flimmern der Leuchtreklamen den Schlaf ... “ So ist es und wird es erschreckend wohl bleiben. Grünlaken bietet auf 224 Seiten eine tiefe, beharrliche Lektüre, ist seit Herbst 2022 und für handzahme 22,80 Euro (ISBN 978-3-948305-18-5) im guten Buchhandel zu haben.
(André Schinkel)