Pirckheimer-Blog

Buch des Monats

So, 06.07.2025

Holger Brülls: "böser garten", Gedichte. Mit einer Algrafie von Gerda Lepke (Cover und Frontispiz). Bucha bei Jena: quartus-Verlag 2024 (Die weiße Reihe, hrsg. von Jens-Fietje Dwars, Bd. 24). 88 S., Kl.-Broschur, ISBN 978-3-947646-57-9, 15 Euro.

Buch des Monats I: „Böser Garten“

Die Bücher, die unter der Ägide von Pirckheimer-Freund Jens-Fietje Dwars im quartus-Verlag in Bucha bei Jena erscheinen, sind ein wenig das Maß für gute Hoffnung heute, dass es nach wie vor schöne Exemplare dieser Spezies der Aufbewahrung von Menschenwissen gibt und: geben soll. Insgesamt vier Reihen hat Dwars im Editionshaus, in dem auch die Marginalien mittlerweile zuhause sind, begründet; und in der Weißen Reihe ist Ende des letzten Jahres bei weitem nicht das erste Buch, aber die erste größere Lyriksammlung von Holger Brülls erschienen, der, promovierter Kunsthistoriker, als Konservator am Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie in Halle tätig ist. Als Wissenschaftler gilt Brülls unter anderem als Koryphäe für religiöse Bauten und Glasmalerei, als Dichter schlägt er einen körnigen und kantigen, gewissermaßen antiromantischen Weg ein: böser garten heißt der Band, der auf knapp 90 Seiten, flankiert von einer Algrafie von Altmeisterin Gerda Lepke auf dem Cover wie dem Frontispiz, blüht und vergeht, sich in Frage stellt und doch die ganze Zeit existiert. So beschreiben es auch die Linernotes auf der Klappe, den Haupttext als String des Buchs paraphrasierend, überaus treffend: „Hass, Wut, Gier, Zorn, alle elementar-irdischen Triebkräfte gedeihen, wuchern in diesem Garten, dieser Welt. Und doch ist sie ein Garten – von eigentümlicher Schönheit. Das Ausleuchten der entzauberten Welt in schnoddrig alltäglicher, bewusst nicht gehobener Sprache, ist eine andere, eine zeitgemäße Sehnsucht nach dem Licht, nach einer Schönheit ohne Schein.“ Nun, in der Tat ist es ein wenig wie in kontemporärer elektronischer Musik: eine Verletzlichkeit, die aus der digitalen Kühle kommt, auf der einen Seite; eine repetitive Kantigkeit, wie sie in manchem EBM-Club der abgewickelten „Blauen Banane“ (den Sound der verloschenen Hochöfen und Fabriken imitierend) nachwummert, auf der anderen. Und doch ist, wie gesagt, dieses Nachsinnen, ja, Nachrufen und nicht zuletzt -raunzen nicht allein kalt, nicht allein zynisch, vielmehr schimmert durch die Krudität der Ära das Mögliche, das mit der Menschenwerk versehen und betan ist, noch hindurch. Noch, und es ist natürlich auch von Enttäuschung die Rede, die diesen Autor, der in seiner Profession dem Schönen anheim ist, das eben von der possiblen Gnade erzählt, zu der Homo sapiens befähigt ist oder war. Und wie von der Scheu: „einmal ging ich durchs haus / belangloses verrichtend / vorbei an drei rücken abends // da fiel mich / aus dem dunkeln / der schrecken / rücklings an // eines tages vielleicht / bin ich in diesem haus / in dem ich niemals / allein war / allein ...“ Spooky ist das, und erschütternd zugleich. Und es zeigt sich eben durch die Geradheit der Worte bleich der Faden dessen, das eben zu ihnen führte.  Oder es ist auch alles ganz anders. Gut jedenfalls, dass dieser erste vollständige Band Gedichte von Holger Brülls nun vorliegt. Ja, und gut, dass es Leute wie Dwars gibt, die dafür eine Weiße Reihe erfunden haben. 

(André Schinkel)

So, 23.03.2025

Starke Kunst von Frauen: im neuen "Spring"-Heft 21.

„Spring #21“ beim Mairisch Verlag

Spring ist ein Lesegenuss und eine Informationsoffensive: Man bekommt darin vorgeführt, was die Crème der deutschsprachigen Comiczeichnerinnen so drauf hat. Und das ist unglaublich viel“, schreibt Andreas Platthaus, Literaturattaché der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Auch in der neuesten Ausgabe des Magazins, das beim Mairisch Verlag erscheint, der Nummer 21, ist das so wie in den Editionen zuvor. „In der aktuellen Ausgabe des Spring-Magazins beschäftigen sich die 14 Illustratorinnen mit Macht in all ihren Formen. Ihre Geschichten handeln vom Umgang mit Ohnmacht, vom Sichtbarmachen von Machtverhältnissen und vom Weg in die Selbstermächtigung. In den Beiträgen erzählen sie von der Macht der Stimme, von der Macht des Geldes und vom weiblichen Kampf als Kraftprobe zwischen den Geschlechtern“, heißt es beim Verlag. Und weiter: „Sie fragen sich, wie der Begriff der Hysterie für die Beherrschung weiblicher Lust missbraucht wurde und wie die ständige Wiederholung von Rollenbilden in den sozialen Medien den Weg für eine Rückkehr des Patriarchalen ebnet. Fantasievoll, kreativ und radikal denken sie darüber nach, wie das mit der Macht wohl alles angefangen haben könnte – und wie man es beendet.“ Ja, starke Statements, taffe, wehrhafte Kunst in trüber Zeit, das braucht es wohl mehr denn je im Moment. Die Künstlerinnen-Gruppe Spring wurde 2004 in Hamburg gegründet. Seither erscheint jeden Sommer ein neuer Band der Anthologie. Die Gruppe besteht seit Beginn ausschließlich aus Frauen und ist ein solides und wichtiges Netzwerk für Zeichnerinnen in Deutschland geworden. Alle Infos hier.

(André Schinkel/Pressemitteilung)

So, 09.02.2025

Neu: Anne Frank "Füller-Kinder" bei Jacoby & Stuart. Das Buch wird am 21. März 2025 in Köln vorgestellt.

Buch des Monats: „Füller-Kinder“

Das Verlagshaus Jacoby & Stuart hat mit Füller-Kinder im Verbund mit dem Anne Frank Haus eine einzigartige Hommage an die durch ihr Tagebuch und ihr Schicksal tragisch weltberühmt gewordene Anne Frank (1929–1945) veröffentlicht. Ihre Kurzgeschichten, die mit dem Tagebuch von ihrer guten Freundin und Beschützerin Miep Gies (1909–2010) im Hinterhaus auf dem Boden gefunden wurden, erscheinen jetzt in einer neuen Ausgabe, liebevoll illustriert von den Großen der Illustrationszunft unserer Zeit. Durch den Begleit-, Untertitel Erzählungen und Ereignisse aus dem Hinterhaus ist das Buch eng mit den zum Weltdokumentenerbe zählenden Diariums-Notizen Anne Franks verbunden, da diese ihr Tagebuch unter dem Titel Das Hinterhaus führte. Anne Frank ist vor allem für ihr Tagebuch bekannt. Was nur wenige wissen, ist, dass sie auch Geschichten geschrieben hat. Sie benennt sie in ihrem Tagebuch als „meine Füller-Kinder“.  Sie reichen von Ereignissen im Hinterhaus über Märchen und Zwergengeschichten bis hin zu Erinnerungen an ihre Schulzeit. Sie begann sogar mit der Arbeit an einem Roman, in den sie die Vita ihres Vaters einbezieht. Er wird später als einziger Überlebender seiner Familie das Tagebuch herausgeben ... Anne Frank bedauerte, dass sie nicht zeichnen konnte. 46 Top-Illustratorinnen/-Illustratoren aus aller Welt haben sich dieser Aufgabe angenommen. Darüber hinaus gewähren sie einen Einblick in ihre Erfahrungswelt und zeigen, dass mit Kreativität und Inspiration Rückschläge und Hindernisse überwunden werden können. Wie Anne Frank glauben sie weiterhin an eine bessere und friedliche Welt. Das Buch hat 260 Seiten, erscheint als Hardcover zum Preis von 30 Euro, ISBN 978-3-96428-257-6. Zugreifen! Am 21. März, 10 Uhr, liest Judith Poznan bei der lit.cologne im Comedia-Theater aus dem Buch.

(André Schinkel/Pressemitteilung)

Di, 21.01.2025

Mascha Kalékos Todestag jährt sich heute zum 50. Mal. Die 'Büchergilde' hat ihre Gedichte wieder neu, mit den superben Grafiken Hans Tichas, aufgelegt.

Mascha Kaléko: „Bewölkt, mit leichten Niederschlägen“

Mascha Kaléko (1907–1975), deren Todestag sich heute zum fünfzigsten Mal jährt, gehörte und gehört zu den weitaus berührendsten Dichterinnen des letzten Jahrhunderts, die in deutscher Sprache schrieben. Geboren in Galizien, unter den Nationalsozialistin verfemt, gestorben in Zürich, erlebte ihre nur auf den ersten Blick schlichte, in Wirklichkeit aber völlig klare und tiefe Dichtung zugleich, die der Neuen Sachlichkeit zuzurechnen ist, eine späte Renaissance. Heute wird sie zu den bedeutendsten Vertreterinnen der Lyrik ihrer Generation gezählt, ihr Beharren auf die Hoffnung auch im Angesicht des Schrecklichen und scheinbar nur schwer zu Überwindenden frappiert – und trägt. Unter den wunderbaren, ja, treffenden Titel Bewölkt, mit leichten Niederschlägen legt nun die Büchergilde Gutenberg zum Jahrestag ihre gesammelten Gedichte in einer überaus feinen und vom großen Maler und Grafiker Hans Ticha reich illustrierten Ausgabe vor. Ticha, der Büchergilde über viele Projekte verbunden, illustrierte insgesamt weit über hundert Bücher – für die Gedichte Mascha Kalékos schuf er mehr als dreißig Grafiken. Die Neuausgabe der Sammlung (denn erstmals erschien sie 2020) ist wiederum in einer regulären Version für 32 Euro und in einer Vorzugsedition mit Ticha-Original für 128 Euro zu haben. Ein Schmeckerchen für alle Bibliophile sind sie beide, was man bei den wunderschönen Editionen der Büchergilde nicht dazu sagen muss ... Und passend zum Gedichtband hat die Gilde nun auch ein Notizbuch im gleichen Design (Kostenpunkt: 16 Euro) aufgelegt, es ist in der gleichen feinen Weise gestaltet und enthält als Auftakt den Kaléko-Titeltext. Schöner geht es eigentlich kaum. Alle Infos und Formate zu Bewölkt ... finden sich hier. (Mascha Kaléko: Bewölkt, mit leichten Niederschlägen. Gesammelte Gedichte. Frankfurt am Main: Büchergilde Gutenberg 2025. 336 S., Hardcover, Leinen, illustriert von Hans Ticha, ISBN 978-3-7632-7182-5, 32 Euro, Vorzugsausgabe: 128 Euro. Kaléko-Notizbuch im selben Design für 16 Euro.)

(André Schinkel/Pressemitteilung)

Sa, 28.12.2024

Ist sicher die berührendste Wiederentdeckung des Literaturjahrs 2024: F. G. Klopstock. Kai Kauffmann widmet dem Dichter die erste Monografie seit 140 Jahren. Sie erschien im Wallstein-Verlag Göttingen.

Buch des Monats Dezember – zum Abschluss des Klopstock-Jahrs

Es dürfte, bei gleichzeitigem Kant-, Kästner- und Kafka-Jahr, die berührendste Ehrenrettung in 2024 gewesen sein: Die Würdigung Friedrich Gottlieb Klopstocks (1724–1803) zum 300. Geburtstag. Ja, nun: Ehre, wem Ehre gebührt – mit Klopstock! Eine Biographie legt Gemanist Kai Kauffmann das wohl fundierteste denkbare Werk dieses nicht hoch genug einzuschätzenden Vorausgängers von und Toröffners für Goethe, Schiller, Hölderlin, Novalis ... kurzum, der Dichter-Elite um 1800, im Wallstein-Verlag in Göttingen vor. Kauffmanns wuchtige Monografie ist dabei das umfassendste Lebensbild dieses Meisters der Empfindsamkeit, der sich, ad astra per aspera, aus den Plattitüden der Anakreontik befreit ... und zugleich die antiken griechischen Metren aus der quantitierenden zur akzentuierenden Sprache auslöst und transformiert, wodurch überhaupt erst ihre Anwendung und Vollendung durch die ihm Nachfolgenden möglich ist, seit 140 Jahren. Und dabei ist der Ruhm Klopstock alles andere als an der Wiege gesungen: Gilt doch sein Familienzweig innerhalb seines Stands als gescheitert und muss da einiges an Energie aufgewandt werden, dass FGK in Pforta zur Schule gehen und in Jena und Leipzig studieren kann. Klopstock selbst weiß da längst um seine Mission: Dichter will und muss er werden und mit dem Messias der deutschen Sprache ein eigenes Epos um Jesus Christus geben. Seinerzeit hochberühmt, gilt es heute als wohl ungelesenstes Werk der Weltliteratur. Mit dem dänischen König wird schließlich 1750 ein Mäzen gefunden, dass Klopstock an seinem Opus magnum arbeiten und es vollenden kann. Wichtig ist F. G. Klopstock gleichwohl geblieben: als Dichter geistlicher Lieder und Oden, in denen er mit Gott brüderlich spricht. Vor allem aber seine Liebeslyrik gehört zum Schönsten, was das Abendland hervorbrachte: Rein um der Liebe willen dichtete er Großes wie Das Rosenband. Diesen Meister und ersten Star der neuzeitlichen Literatur dem Vergessen entnommen zu haben, ist das gewaltige Verdienst von Kai Kauffmann. (Kai Kauffmann: Klopstock! Eine Biographie. Göttingen: Wallstein-Verlag 2024. 420 S., mit 30 z. T. farb. Abb.en, geb., Schutzumschlag, 14,4 x 22,7 cm, ISBN 978-3-8353-5569-9, 36 Euro.)

(André Schinkel)

Fr, 04.10.2024

Diese "unversöhnliche" Ausgabe 14 der "MaroHefte" ("Der Prozess"), widmet sich einem heiklen Thema.

Maro: Ein unversöhnliches Heft

Es ist nicht der Prozess Frank Kafkas, das uns hier als MaroHeft #14 auf 36 Seiten in Englisch und Deutsch anblickt, nein, es ist auf ganz andere Weise ein unversöhnliches (so auch der zweite Untertitel der Maro-Neuerscheinung) Heft, eine Auseinandersetzung mit dem Völkermord an den OvaHerero und Nama durch deutsche Soldaten zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts im heutigen Namibia. Die zweisprachige englisch-deutsche Ausgabe in der Verfasserinnenschaft von Christiane Bürger und Sahra Rausch, übersetzt von Ryan Evers und mit Originaldruckgrafiken (Zyklus We are still waiting) der in Windhoek lebenden, arbeitenden Tuaovisiua Betty Katuuo bestückt, wirdmet sich damit einem so wichtigen wie aktuellen, heiklen Thema: Warum klagen die Nachkommen der OvaHerero und Nama seit Jahrzehnten erfolglos gegen die Bundesrepublik Deutschland? Was ist auf völkerrechtlicher Ebene passiert, seit deutsche Soldaten zu Anfang des 20. Jahrhunderts Zehntausende Menschen auf dem Gebiet des heutigen Namibia ermordeten? Und wie gelingt es dem deutschen Staat immer wieder bis heute, eine juristische Verurteilung wegen Völkermords abzuwehren? Anhand der Klagen, die die Nachkommen wiederholt einreichten, wirft dieses Heft einen Blick auf Deutschlands Umgang mit seiner Geschichte als frühere Kolonialmacht. Im Brennpunkt steht auch die Verfasstheit eines historisch gewachsenen Völkerrechts, das anti-rassistische Aktivistinnen und Aktivisten verstärkt einer postkolonialen Rechtskritik unterziehen ... Ein weiteres Mal führt Deutschland vor, wie es gelingt, die Forderungen der Nachkommen von Ermordeten abzuweisen – und zugleich als der große „Wiedergutmacher“ der Weltgemeinschaft aufzutreten. Ein unversöhnliches Heft über einen „Prozess“, der im gegenwärtigen Sturm der Epochenbrüche unterzugehen droht. Alle Informationen zum Heft und den anderen Heften der Reihe (mittlerweile sind zwei weitere Ausgaben der bibliophilen Reihe erschienen) finden sich hier.

(Kevin Konopke)

So, 29.09.2024

Vor 250 Jahren erschienen: "Die Leiden des jungen Werther" von Johann Wolfgang Goethe. Das Buch war sofort ein europaweiter Erfolg ... Innentitel der Ur-Ausgabe 1774. | © H.-P. Haack via CC BY-SA 3.0

Buch des Monats: Goethes „Die Leiden des jungen Werther“

Es ist sicher eines der Werke, das Johann Wolfgang Goethe (1749–1832) in seinen späten Jahren durchaus als „Brandrakete“ aus seiner Sturm-und-Drang-Zeit zu bezeichnen wusste, ähnlich wie sein ungeheuerliches Prometheus-Gedicht – gleichwohl ist sein erster Roman Die Leiden des jungen Werther (in der Erstausgabe noch mit dem Genitiv-s, das später revidiert wurde, im Titel) einer der fulminantesten Roman-Erfolge in der deutschsprachigen Literatur der Neuzeit. Im September 1774, vor nun 250 Jahren, erschien der Briefroman des jungen Autors und machte europaweit Furore; ja, und nicht jeder verzweifelt Liebende konnte erfolgreich davon abgehalten werden, es Werther gleichzutun, der am Ende des Buchs, nachdem er sich das Leben nahm, beerdigt wird, flankiert von dem ikonischen wie erschütternden letzten Satz des Werks: „Kein Geistlicher hat ihn begleitet.“ Davor macht der Protagonist, der von Lotte (die eine autobiografische Wurzel im Leben des jungen Goethe anreißt) nicht erhört wird, erhört werden kann, eine Verwandlung vom homerischen zum Ossian-Gemüt durch, verdunkelt sich seine Seele. Was für ein Buch, das vom möglichen Wirken von Literatur erzählt, seither in unzähligen Auflagen erschien und immer wieder vorgeholt werden mag. 

(André Schinkel)

Di, 27.08.2024

Beste beste Freunde: Eichhörnchen und der Pilz Pok. Später gesellen sich zu Olivier Tallecs bekanntem Helden noch zwei weitere Anwärter für beste beste Freunde hinzu: Momo und Günther. Und die knifflige Frage, wie viele Freunde man braucht, ja, und auch verkraften kann, löst sich am Ende wie von selbst. Ein Plädoyer für die Freundschaft und die Offenheit.

Das Buch des Monats: „Mein bester bester Freund“ von Olivier Tallec

Wie ist das mit dem besten, nein, dem besten besten Freund in der Welt? Das fragt sich das neue Kinderbuch von Olivier Tallec, in dem das dem Kundigen (sic!) bestens vertraute Eichhörnchen eben diesem Reiz nachgeht. Das Büchlein, wunderbar in seinen Bildern und kleinen (das Zahnrädel der Geschichte, das ihm innewohnt, staunend Zahn um Zahn bewegend) Textportionen, ist soeben im Hildesheimer Gerstenberg Verlag in der Übersetzung von Ina Kronenberger erschienen. Es ist ein so sanftes wie lehrreiches Vergnügen, dem kleinen Nager bei der Entdeckung seines besten besten Freunds Pok zuzusehen; da ahnt man noch nicht, dass es zwei weitere Versuchungen des Eichhörnchens in Form der Mücke Momo und der Maus Günther (wer bis jetzt nicht wusste, dass Mäuse Günther heißen, wird nach diesem Buch abstreiten, dass es je hätte anders sein können ...) gibt. Die Frage des Büchels, das in so schöner Gestaltung auf den kleinen wie großen Leser kommt, beantwortet sich am Ende selbst; und das Wunder, dass es vielleicht (und gerade in dieser wurstigen Zeit) gar nicht schadet, sich letztlich nicht entscheiden zu können, wer denn nun der beste Freund ist, vollzieht sich jenseits des Konflikts, den das Eichhörnchen mit einem, nun ja, quasi Freundes-Urteil des Paris auf sich zukommen sähe. Es ist eine Botschaft des größeren Glücks, wenn man unter Freunden nicht aussuchen kann und mag, wer denn nun der beste ist ... Umgekehrt, also: unter Abgewandten einen Freund zu gewinnen, wäre viel härter. Gewinnend auch die Haltung des Eichhörnchens, nach einigem inneren Disput (herrlich in den begleitenden Monologen des Nagers) die Sache laufen zu lassen. Dreimal dauert es ein bissel, bis das Tier den neuen Freund-Aspiranten anspricht. Letztlich ergründet das Buch, wie es auch im Rückentext heißt, das tiefe Geheimnis der Freundschaft: Jeder kann es begreifen. So ein schönes Buch. Oja. Nun muss letztlich nur noch die Welt in Ordnung kommen ... (Olivier Tallec: Mein bester bester Freund. Für Kinder ab 4 Jahren, aus dem Französischen von Ina Kronenberger, Hildesheim: Gerstenberg Verlag 2024, HC, 280,0 mm x 200,0 mm x 10,0 mm, 40 Seiten, durchgehend farbig illustriert, ISBN 978-3-8369-6269-8, 15 Euro.)

(André Schinkel)

So, 28.07.2024

Hubert Schirnecks neues Buch „Der Tag der zweiten Wirklichkeit“ – erschienen in der Edition Hibana von Florian L. Arnold. Das Buch enthält eine Erzählung und zwei Zyklen Gedichte; es wurde vom Verleger vollständig farbig illustriert und komplett gestaltet.

Hibana: Hubert Schirnecks „Der Tag der zweiten Wirklichkeit“

Feinstes Buchwerk (zum überschaubaren Preis), das ist das Credo von Florian L. Arnold, der in Oberelchingen die Edition Hibana betreibt, ja, und er formuliert es selbst triftig mit: „Erwarten Sie alles!“ Und weiter heißt es: „Das Programm ist ganz einfach: Texte, die der Verleger wichtig und gut findet – ganz unabhängig von vermuteten Verkaufschancen. Hibana kann sich das erlauben, weil das Label unabhängig ist. Hier gibt es Bücher für Erwachsene, die sich mit guter Sprache und originären Inhalten auseinandersetzen.“ Der Verleger schätzt Autoren, die etwas auf der Textkante haben, Eigenartiges, Sonderbares, Seltenes und/oder Hinreißendes, das berührt, schmunzeln oder staunen macht. Und hat einen wunderbaren Glücksgriff getan mit Hubert Schirnecks Der Tag der zweiten Wirklichkeit, das die integrale Erzählung Der Tag des unablässigen Mondes enthält und eine Reihe Gedichte, die sich in den Zyklen Ausordnen und Totentänze gruppieren. Die Sprache des mehrfach geehrten Weimarer Dichters und Erzählers, der auch als Kinderbuchautor bekannt wurde, ist hier von einem innigen, geheimnisvollen, zuweilen skurrilen Timbre, und die Anlage und Anordnung der Texte saugt in diesen vollständig farbig von Arnold gestalteten und illustrierten Band kräftig hinein, dass einem schwirrig wird und ganz erhaben zugleich. Dunkel geht es da zu, leis oder epigrammatisch: „alles glück ist / von der lebensdauer / eines tropfens / der von einem blatt ins moos fällt // dieses leben lang / schläft der weg unter dir“; und am Ende zieht der Tod sich die Schürze an, die mit den Gänseblümchen. Darum gebaut sind die herrlichen Blätter und Farbgewitter Florian L. Arnolds, eine reiche Fülle auf gerade 88 Seiten. Was. Für. Ein. Schönes. Buch. (Hubert Schirneck: Der Tag der zweiten Wirklichkeit. Kurzprosa, Gedichte. Illustriert von Florian L. Arnold. Oberelchingen: Edition Hibana 2024, 88 Seiten, durchgehend farbig, Hardcover und Fadenheftung, im Format von 12 x 19 cm, Auflage limitiert auf 130 Exemplare, ISBN 978-3-946423-28-7, 21 Euro.)

(André Schinkel)

Sa, 27.07.2024

Roland Müller: „Caspar David Friedrich. Gedichte zu Bildern“, Moloko Print Bd. 226, Schönebeck: Moloko Plus 2024. KlBr., 60 S., ISBN 978-3-910431-35-5, 15 Euro, die Umschlagillustration von Lear Dark Rifflec.

Caspar David Friedrich: Roland Müllers Gedichte zu Bildern

Roland Müllers Werk ist ein noch weithin zu entdeckendes, der Großteil seiner Gedichte, Zyklen, Glossen und kleinen Geschichten erschien im Eigenverlag. So hat dieser Dichter eine eigenständige Heftreihe begründet, in dem, jahrgangsweise oder auch thematisch geordnet, seine Texte erscheinen. Der aus dem südlichen Brandenburg stammende und lange in Dresden Lebende indes bewegt sich in einem kleinen Netz- und Austauschwerk, und so kommt sicher auch die feine Publikation bei Moloko Print zustande, in der unter der Reihennummer 226 sich seine lyrischen Adaptionen und Exegesen zum diesjährigen, seinen 250. Geburtstag begehenden Jubilar Caspar David Friedrich in diesem Frühjahr erschienen. Und das ist ausdrücklich zu begrüßen, setzt doch Müller, unterstrichen mit dem gelb-schwarzen Cover des Nachfolgers seines 2021 im Radochla-Verlag erschienenen Gedicht-Bild-Bandes DenkMale in Dresden noch einmal einen erheblichen Aufmerksamkeitspunkt: auf CDF einerseits wie auch auf seine stille wie unbeirrbare, wie Friedrichs Kunst gegenständliche und doch leise schwirrende, nein, oft schwebende wie schwere ... meist konstatierende, teils fragende dichterische Arbeit. Roland Müllers Gedichte leben von geordneter, aus der Tradition schöpfender Metrik, die den Gedanken durch die Textur führt und von einem, in dieser von Chaos gezeichneten Epoche zumal, berückenden Reiz ist: alternierend, klassisch gereimt, ganz da und doch auch über die Zeit tönend, wie es einem Gegenstand wie CDF und dessen Jubiläum angemessen ist. Jedem der Texte ist ein Kunstwerk von Friedrich beigestellt, das behutsam vom Autor, in seinem Berufsleben eine Zeitlang typografisch tätig, mit einer speziellen Methode stets ein My neben die Spur gesetzt ist. Ergänzt durch die Cover-Adaption von Lear Dark Rifflec, wundervoll gestaltet, ergibt sich mit den so sicher wie zerbrechlich sprechenden Texten Roland Müllers ein schönes Buch, das man mit sich herumtragen mag. Dem Mann und seiner künstlerischen Arbeit im Weinberg des Nowendigen, ja, und Triftigen ist Aufmerksamkeit zu wünschen und dass sich Moloko seiner dauerhaft annimmt. 

(André Schinkel)

Sa, 25.05.2024

In Alice Munros Büchern baden ... | © by CC BY-SA 2.0

Mai: Erinnerung an Alice Munro

In ihrer Heimat Kanada ist sie so berühmt, dass ganze Bibliotheks- und Buchhandlungswände nur aus ihren Werken bestehen: Die Literaturnobelpreisträgerin von 2013, Alice Munro (1931–2024), starb am 13. Mai still, sie war schon lange verstummt; aber ihre 150 Erzählungen vor allem werden es sein, die sie auch fortan zum festen Bestand der angelsächsischen Literatur zählen lässt. In den englischsprachigen Ländern war Munro eine Bestsellerautorin, zugleich eine Meisterin des Stils der Novelle wie der Short Story. Die hohe Ehrung für sie kam spät, viele meinen, zu spät, und sie verwehrte wohl zugleich auch die Auszeichnung der zweiten, ebenso großen Erzählerin aus Kanada, Margaret Atwood, die den Nobelpreis auch längst und zwingend bekommen haben müsste. Das wird nun wohl nicht mehr geschehen, aber es ist genausowenig Alice Munro, die eine diebische Vorliebe für verzwickte Geschichten hatte, anzulasten ... Als Buch des Monats möge im Mai Munros letzte Sammlung Dear Life stehen, im Original 2012, in deutscher Übersetzung unter dem Titel Liebes Leben 2013 bei S. Fischer erschienen: 14 Erzählungen, in feiner Meisterschaft vereint.

(André Schinkel)

Do, 18.04.2024

Der Dichter Wilhelm Bartsch lebt in Halle. Seinem Debüt "Übungen im Joch" folgten eine Reihe Bände: Gedichte, Erzählungen, Romane, Nachdichtungen und Essays. Er wurde u. a. mit dem Brüder-Grimm-Preis sowie mit dem Wilhelm-Müller-Preis geehrt.
"Hohe See und niemands Land", bei Wallstein 2024.
In seinem neuen Buch spricht Bartsch mit einigen der großen Vorausgänger: St. Brendan, Shakespeare, den mitteldeutschen Dichtern Novalis und Hilbig.
Unser Rezensent Axel Helbig war viele Jahre Geist und Seele der Zeitschrift "Ostragehege". Er lebt als Autor, Kritiker, Publizist, Herausgeber in Dresden.

Buch des Monats II: „Wir selbst im Honiglicht sind Trauermücken“

Eine Paraphrase auf William Shakespeares 87. Sonett eröffnet Wilhelm Bartschs opulenten Gedichtband Hohe See und niemands Land. Aus Shakespeares ironischem Abrechnungsgedicht an einen Freund wird bei Bartsch ein Abrechnungsgedicht an „Frau Welt“, die doppelgesichtige Begierde, die den Menschen blind macht: „Soll ich mit dir im Sturm wie Lear noch tanzen, / Bis du mein Werk und mich zerbrichst zuletzt? / Schon hast Du mir den Virus der Bilanzen / Als Krone der Erschöpfung aufgesetzt. / Hoch fuhr ich aus dem Traumreich der Aufmotzer / Als König zwar, doch König der Schmarotzer.“ (Aus: Mein Eigentum.) 

Ehrlicher kann ein Gedichtband nicht ansetzen. Und dieser Ouvertüre folgen noch weitere Texte mit geradezu philosophischen Selbsteinsichten und Selbstermunterungen. „In Form zu bleiben“, erprobt sich Wilhelm Bartsch an Skakespeares Sonettform und vertreibt „mit solchem Sturm die Zeitgeisttricks“. Das Ziel ist klar: „Zur hohen See, zu niemands Reede hin, / Da liegen Shakespeare – Dante – Hölderlin –“ (Aus: Shakespeares Form.) Aber der Band ist mehr, er ist ein Fahrten- und Welten-Buch, in dem sich das lyrische Ich auf gefährliche Reisen zu Wasser und zu Land und durch Raum und Zeit begibt ... Der Wanderer kommt nach Auschwitz-Birkenau und nach Palmyra. Der Seefahrer bis ans Nordmeer. Mit St. Brendan „the Navigator“ nach „Anderswelt“ segelnd, „pinselt er seefahrende Gedanken (ins) Logbuchpalimpsest.“

In den angefügten Anmerkungen zu den Gedichten schreibt Bartsch, dass es dieser Anmerkungen nicht bedürfe. Das stimmt. Bartschs Gedichte sind ein Fest der Sprache und der Sinne, das keiner weiteren Erklärung bedarf, um den Leser in diesem Sprachstrom mitzureißen. Vor manchen Gedichten steht man wie vor einem Naturereignis, einem Nordlicht, einem Blick ins Alpental. Dennoch lohnt es sich, den Anmerkungen nachzugehen. Man erfährt nicht nur, dass der in Irland verehrte Heilige Brendan möglicherweise 900 Jahre vor Kolumbus in Amerika war, oder dass Arno Schmidt, das Urbild für seine Franziska (Hauptfigur in Zettels Traum) dem Unterwäsche-Katalog Mona entnommen hat. In Summa staunt man, welche Welt- und Querbezüge in ein Gedicht hineinreichen können. Diesen Hinweisen des lyrischen Enzyklopädisten Bartsch nachzugehen, macht Spaß, führt zu höherer Bildung und ist allemal besser, als den Zeitgeisttricks zu folgen. 

Ein anderer Heiliger von Wilhelm Bartsch ist Wolfgang Hilbig (1941–2007), sein Freund und Anreger: „Zwar zeitenkrank, doch sicher reist Sankt Hilbig / Auf seinem Rettungsfloß ,Misere‘. / Sein Unstern führt ihn sicher übers Meer / Von Katastrophe hin zu Katastrophe … // Er folgt so einzig seinem reziproken / Gesetz des Widerstands: je hässlicher / Die Fahrt wird, desto schöner, wird erniedrigt / Sankt Hilbig, kriegt er Größe, und je mehr / Die Nacht der Irrfahrt steigt, wächst auch die Klarheit, / Nur aussichtslose Fahrt führt hin zur Lösung …“ (Aus: Rettungsfloß „Misere“.)

Ein anderer Bezugspunkt ist Gottfried Benn (1886–1956), dessen Intentionen und Sprachgefühl Bartsch in mehreren Gedichten nachgeht. Benns und Bartschs Melancholie sind sich verwandt. Da ist ein Wissen um Schönheit, eine Trauer um ein Menschsein, welches das Wunderbare und Schöne zerstört: „Wir selbst im Honiglicht sind Trauermücken / mit dieser ewig großen zähen Geste, / in diesem Ballkleid nur aus Todesschlieren / und bald schon tief im schwarzen Flöz der Zeit.“ (Aus: Trauermücken.) – „Kann sein, wir wissen kaum was von der Welt, / Nur wie wir, Wüsten bergend, uns ermorden / Und nur, was für uns zählt, auch zählen: Geld. / Wir sind, die schießen, prellen und umhauen, / So prellt und schleudert uns nun selbst das Grauen.“ (Aus: Vulpus volatus.)

Den fünf Abschnitten des Bandes sind jeweils Motti vorangestellt, die den Grundton der Gedichte vorgeben. Vor dem zweiten Abschnitt steht ein Gedanke von Novalis (1772–1801): „Die Natur ist Feindin ewiger Besitzungen. Sie zerstört nach festen Gesetzen alle Formen des Eigentums ...“ Der letzte Text des Bandes ist einer Frau gewidmet, ihr verdankt sich – neben Shakespeare – auch das Buch. Sie ist das Du in vielen Gedichte, oft Gefährtin auf See und zu Land. An sie – die alte neue Liebe – richtet Wilhelm Bartsch manch zarte Zeile und Sonett in diesem Buch:

Du hörtest, dass ich’s war, an meinem Schritt
Noch hinter dir und nach so vielen Jahren.
Auch Du gingst ja für immer mit mir mit,
Ich wusste es auf einmal mit den Haaren.
Waren wir denn so unlösbar verknüpft,
Als hätte nicht die Zeit das Band zerrissen?
Ein Kind der Zeit war ich, das springt und hüpft,
Es fiel mir sogar leicht, dich zu vermissen,
Ich nahm dich tief in mir wohl nicht mehr wahr.
Glück, blinder Passagier dort im Versteck,
Auf hoher See erst wird es offenbar: 
Dein Steuerrad, mein Schritt an Deck.
Doch wer zur See fährt, hofft auch, dass er landet, 
Dass Liebe Liebe bleibt, noch wenn sie strandet.

(Du hörtest, dass ich’s war.)

Wilhelm Bartschs Sonette lesen sich, als hätte er diese lyrische Form soeben erschaffen, kein Staub klebt an den Versen, sie lesen sich geschmeidig und rhythmisch. Diese Gedichte regen den Geist an wie ein Gang durch die Natur. (Wilhelm Bartsch: Hohe See und niemands Land, Gedichte, Göttingen: Wallstein Verlag 2024, 140 Seiten, geb., ISBN 978-3-83535-393-0, 22 Euro.)

(Axel Helbig)

Di, 16.04.2024

"Musashimaru" heißt der Held dieses Büchels – ein Nashornkäfer ... der mit den Kräften des Yokozuna, nach dem er benannt ist, vier Monate im Leben des Schreiberpaares rumwirtschaftet und dessen Tod, der unweigerlich kommt, dann große Trauer auslöst.

Buch des Monats I: „Musashimaru“

In memoriam Akebono Tarō

Wer ist Musashimaru? Musashimaru Kōyō ist ein ehemaliger Sumōtori, der zweite Ausländer, der in der höchsten Sumōklasse, der Makuuchi, je den Rang eines Yokozuna, eines Großmeisters der Kultsportart, erreichte. Seine kraftvolle Wucht in seiner aktiven Zeit war legendär. Seit 1996 ist der Samoaner japanischer Staatsbürger. Aber um ihn geht es in diesem Buch nur indirekt. Musashimaru ist der Name des Nashornkäfers, der der stille und zugleich vorwitzige Held dieses kleinen Buches von Choukitsu (oder auch: Chōkitsu) Kurumatani (1945–2015) ist. Über seine Kleinheit soll man sich nicht täuschen: Er hat Kräfte wie der Ringer, nach dem er benannt ist, und er schiebt Nacht für Nacht seinen Korb durch das neubezogene Haus, das der Erzähler, der mit dem Verfasser des Buchs quasi deckungsgleich ist, nach langer Durststrecke und plötzlichem Wohlstand, da ihn der literarische Ruhm und Erfolg spät, aber grad noch traf, mit seiner Frau, einer Dichterin, seit kurzem bewohnt. Frisst ferner beherzt Melone und strullt hernach ordentlich die Bude voll, vergeht sich im Hormonrausch am Finger des Erzählers und misst sich aus der Ferne mit einem Hirschkäfer, der, obwohl ihm ein viel längeres Leben prophezeit ist, lange vor ihm das Zeitliche segnet. Nun, aber einmal trifft es auch Musashimaru, aber da ist schon Winter und sein Überleben ein Wunder. Der Tod ist Kurumatanis, der selbst nach vielen Entbehrungen erst berühmt und (in Japan ist das wohl noch möglich) wohlhabend wird, großes Thema, es zieht sich durch sein ganzes unter erheblichen Schwierigkeiten erworbenes Werk; und eine sarkastische Volte seines Lebens ist, dass er 2015 an einem Bissen Essen erstickte. Dieses Büchlein hat die Grazie der Sumōtori, denn es ist behende und schwerwiegend zugleich. Es erschien in der schönen Übersetzung von Katja Cassing 2016 in der Edition des Cass Verlags in Bad Berka (64 Seiten, geb., Halbleinen, Fadenheftung, 11,5 x 18,5 cm, ISBN 978-3-944751-11-5); und die Zierde des Buches neben der schönen Verarbeitung sind sieben ganzseitige Illustrationen von Inka Grebner, die den Gang durch Musahimarus Leben zeigen, der Beinglied um Beinglied verliert und eines Morgens mit seinem Tod für große Trauer sorgt. Ein zart-seltsames Buch, das der Bibliophile gern im Herzen trägt und in seinen Beständen sicher weiß.

(André Schinkel)

Do, 21.03.2024

Ein Erzähler wie ein ... literarisches Donnerwetter: Gabriel García Márquez. Sein Romanino "Wir sehen uns im August" erschien soeben, zehn Jahre nach dem Tod des Meisters des Magischen Realismus. In deutscher Übersetzung wurde der schmale Band in einer schönen Ausgabe bei Kiepenheuer & Witsch, begleitet von je einem Vor- wie Nachwort, verlegt. Es übersetzte die Márquez-Kennerin Dagmar Ploetz.

Buch des Monats – „Wir sehen uns im August“ aus Márquez’ Nachlass

Es sind nicht viele Bücher und Autoren, die Erdbeben auslösen können, dieser ganz bestimmt: Gabriel García Márquez (1927–2014), der zu den größten Erzählern dieses Doppeljahrhunderts zählt. Allein die Nennung der drei bedeutendsten Romane aus seiner Feder – sein Opus magnum Hundert Jahre Einsamkeit, Die Liebe in den Zeiten der Cholera sowie Von der Liebe und anderen Dämonen, lassen den Freund des Magischen Realismus erzittern, da ist noch kein einziges Wort über Laubsturm, Nachricht von einer Entführung oder Der Oberst hat niemanden, der ihm schreibt gesagt. Eigentlich hat der kolumbianische Nobelpreisträger vor seinem Tod die Vernichtung seines letzten Buches verfügt, weil es in seinen Augen nichts taugt. Nun, man wird wohl dereinst von Glück sagen, dass sich seine Söhne nicht zu diesem Schritt entscheiden konnten – auch wenn sie ähnlich wie Max Brod gegenüber seinem Freund Kafka die Gewissensbisse plagen, ist doch die Entdeckung und Veröffentlichung von Wir sehen uns im August jetzt ... zehn Jahre nach dem Tod des Meisters ... nicht weniger als eine literarische Sensation. Der schmale Band ist begleitet von einem Vor- und einem editorischen Nachwort, in dem die Umstände des Zustandekommens beschrieben sind – eigentlich plante Gabo fünf Erzählungen um die Heldin Ana Magdalena Bach, indes, der Kampf des Meisters mit der zunehmenden Demenz verhinderte um ein Haar auch den Abschluss des hier nun vorliegenden Romanino. Die Überlieferung ist etwas zwiespältig: Neben dem Zweifel Márquez’ an der Qualität seiner späten Arbeit findet sich am Ende der fünften Fassung das „Gran OK“ von seiner Hand. Und auch wenn man dem Buch einige Stolperstellen bescheinigt, ist sie doch auch hier zu finden, die große Magie, mit der dieser Erzähler ein Zauberer der Sprache war. Die Story ist krud und zart zugleich: Die Heldin reist immer im August auf die Insel, wo sich das Grab ihrer Mutter befindet. In die Regelmäßigkeit ihres Lebens bricht nach einer Barnacht im Hotel eine ambivalente Affäre ein, ein klassischer Masterplot, geeignet, Biografien zu verwirbeln. Und das Ende ist – nicht wenig spooky ... Alles in allem ist Wir sehen uns im August das allerdings fulminante Dokument des Verlöschens eines großen Geistes. Die Gestaltung des regulär bei Kiepenheuer & Witsch verlegten Bands verdient auch aufgrund seiner äußeren Schönheit Beachtung: ein Buch, das man gern mit sich herumträgt und wieder und wieder zur Hand nimmt. Und vielleicht tut uns Gabo den Gefallen, und da sind noch mehr Schätze im Nachlass, die’s zu heben lohnt, uns vielleicht noch einmal über sein großes Thema, die Liebe, zu belehren. (Gabriel García Márquez: Wir sehen uns im August, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2024, HC mit SchU, 144 Seiten, ISBN 978-3-462400-642-1, 23 Euro.)

(André Schinkel)

Sa, 24.02.2024

"Mensch sein" – ein Plädoyer für das Menschliche.
Das Autorenduo: Kai Michel (li.) und Carel van Schaik.

Buch des Monats: „Mensch sein“

Gerade in diesen verfaulenden Zeiten, im Angesicht des heutigen erschreckenden Datums, ist jedes Zeichen der Hoffnung, das den Menschen in einem anderen möglichen Licht erscheinen lässt, wichtig, wenn nicht von höchster Bedeutung. Carel van Schaik und Kai Michel haben es wieder getan: Im nunmehr dritten Band ihrer als Tetralogie ausgelegten Erkundung des Menschen haben sie nun nach Das Tagebuch der Menschheit (2017) und Die Wahrheit über Eva (2020) in Mensch sein (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 2023, Hardcover mit SchU und Lesebändchen, 384 Seiten, ISBN 978-3-49800-327-5, 24 Euro) dem sozialen Grundgerüst, dessen wir alle bedürfen, sich zugewandt. Der renommierte Anthropologe van Schaik, dessen Forschungen einerseits den drei Species der Orang-Utans und zum anderen den Wurzeln des Menschen gewidmet sind, und der Historiker und Literaturwissenschaftler Michel, der im Verbund mit Harald Meller auch drei archäologische Bestseller zur weltberühmten Himmelsscheibe von Nebra und zur Schamanin von Bad Dürrenberg vorlegte, sprechen in Mensch sein von unserer Sehnsucht nach den anderen, die jedem Menschen eingegeben ist und die bis in seine Uranfänge verfolgbar sind. Das Phänomen der Sesshaftigkeit, das neben vielen fortschrittlichen Aspekten auch dem Keimen von Krieg und Patriarchat hohe Ränke gibt, schält sich im Blick der bisher vorliegenden drei Bände einer tiefen religions- und archäosoziologischen Deutung des Menschlichen als Zentromer und als Drehpunkt heraus. Aber: Eben dies zu wissen und zu erkennen zeitigt auch die Möglichkeit, gegen diese Zwie- wie törichte Form der zivilisatorischen Barbarei vorzugehen! Denn nach wie vor besteht Hoffnung, auch dies erzählt dieses Buch: Wie kaum ein Wesen ist der Mensch erfinderisch im Bewältigen von Krisen, im Überwinden von Abgründen, nun, auch wenn es im Moment nicht danach aussieht. Die Autoren erläutern in ihrem zudem fulminant formulierten Text das Wechselspiel unserer ersten (Herkunft und Genetik) mit der zweiten (Kultur) und dritten Natur (Vernunft) und begründen die Notwendigkeit dieses. Es ist, so van Schaik und Michel der Schlüssel dazu, künftig miteinander in Eintracht zu leben und gewissermaßen auch ein Stückweit an die paradiesischen Strände des Anfangs anzuknüpfen. Von der Evolution für die Zukunft lernen – was für eine Vision. Es ist eine Frage der Kommunikation (im Sinne des Palaverns), Besinnung, letzthin Grund für Optimismus. Der bereits in Angriff genommene vierte Band der Folge soll sich dann der wohl dunkelsten Seite des Menschenwesens, dem Krieg, widmen ... hoffend, auch daraus Erkenntnis und, auch wenn die beiden Verfasser mit allem anderen als dem moralischen Zeigefinger, sondern vielmehr mit dem Suchen und Erläutern von Erklärungen arbeiten, Lehre zu ziehen. Zwei Autoren der Stunde, wert, dass ihre Bücher tausendfach die Herzen und Hirne der Menschen erreichen: So. Möge. Es. Sein. Denn darum geht es auch im Angesicht des momentanen Hangs zu Blut und Geschepper nach wie vor ... sich auf das Wesentliche, was dem Menschen nach dem Austritt aus dem Tierreich verfolgt, zeigt und zeichnet zugleich – Kultur und Mit-Menschlichkeit und, in die Natur gespiegelt der Mit-Wesenheit, wieder konzentrieren zu können; dann klappt es auch künftig mit dem Miteinander. Die Autoren sind momentan auf Lese- und Gesprächstour im deutschsprachigen Raum unterwegs. Das Buch darf mithin auch als Beispiel gelten, wie gute Recherche in passende Verpackung kommt: Das Cover ehrt mit Masse von Franz Wilhelm Seiwert einen von den Nazis verfemten Künstler – sein Gemälde steht für die Menschheit, also uns, die wir uns erblicken, im Spiegel unserer selbst.

(André Schinkel)