Caminante, son tus huellas / el camino, y nada más … (Machado)
Kafka und kein Ende: Wenn dem vor hundert Jahren im Alter von nur vierzig Jahren Gestorbenen nur der Hauch, ein Krümchen seines Ruhms zu Lebzeiten, wie er ihn (und auch noch gegen seinen Letzten Willen) im Tode traf, erreicht hätte, er hätte sich, Enttäuschung gewohnt, wohl gewundert und vielleicht auch verwahrt. Es ist aber so – Franz Kafkas (1883–1924) Werk ist zum Inbegriff der Verwerfungen des letzten (und wohl auch dieses) Jahrhunderts geworden. Die Verwandlung scheint da, neben den drei fragmentarisch gebliebenen Romanen Kafkas, ein Emblem dieses Erzählers geblieben zu sein; angesichts der großen Weitläufigkeit seines Werks, seiner Meisterschaft auch und vor allem in den kleinen Formen stellen sie letztlich nur das obere Pyramidion seines Wirkens dar.
Dass es so ist, verwundert indes nicht. Mit Das Urteil (1913) und In der Strafkolonie (1919) bildet Die Verwandlung, die 1915 erschien, eine exemplarische Novellen-Trilogie, die das Doppelthema der Unüberwindbarkeit von Instanzen, seien es Väter oder Vorgesetzte und das, was sein Nachgänger Wolfgang Koeppen (1906–1996) später mit dem elementaren Verdiktum „Wir sind von Anbeginn verurteilt“ (so in Jugend von 1976) treffend und schneidend beschrieb, mustergültig vor. Der Plot, in dem vom ersten Satz an das Verhängnis seine (sic!) Fühler ausstreckt, ist Signet und Vademecum einer der Blüten der Literatur der Moderne geworden, hinter dem sich jeweils ein Kosmos eröffnet, der die Gebresten der Existenz aufs Korn und mit buchhalterisch-advokatischer Akkuratesse wie kühler Anteilnahme in den Blick nimmt und damit die bedrückendsten Abgründe erzählt.
Der Abyss entspringt dabei und fällt in die Tiefe seiner selbst, aus dem tiefsten Alltag heraus, der die sprichwörtliche Geworfenheit des Menschen, seine Entfremdung und Selbstentfremdung in der Moderne in sich trägt und hinter dem Biedermeier des Funktionierens, Funktionieren-Müssens hervorlugt. Gregor Samsa, der sich für seine saumselige Familie den Arsch aufreißt, findet sich in ein chitinbehängtes Monstrum, nun ... ja ... – verwandelt. Der Rest, wenn auch erst nach dem Tod Franz Kafkas und durch die vermittelnde Arbeit seines Freundes Max Brod (1884–1968), der den zu Kafka-Lebzeiten publizierten Texten den fulminanten Nachlass beigesellte, ist Literaturgeschichte.
Ein bisschen scheint es auch so, dass im entwickelten Spätkapitalismus nun die Nachzehrer aufwachen und nicht nur das Andenken dieses Erzählers wahren, sondern ja auch einen gediegenen Euro damit machen mögen. Bei der Veröffentlichung von Die Verwandlung, Kafkas bekanntester und auch die Vielgestalt seines übrigen Werks ein wenig verdeckender Erzählung, im Programm der Büchergilde Gutenberg liegt der Fall anders. Dieses Buch ist weniger ob der Wiederauflage der Novelle ... – sondern aufgrund seiner illustrativen Beigabe verdienstvoll, würdig und auch besonders. Und es berührt, wenn man sich eingehend mit der Geschichte des Zustandekommens dieser Kombination des Textes mit den bisher unbekannten Zeichnungen Rosy Lilienfelds befasst.
Eben diese, die Novelle begleitenden Illustrationen sind die Entdeckung der Veröffentlichung der Büchergilde zum Kafka-Jahr, und sie erzählen von einer künstlerisch sowie menschlich aufregenden Wiederherstellung des Wissens um eine bedeutende Grafikerin einer verlorenen Generation. 2022 erstmals wieder in einer Ausstellung im Jüdischen Museum Frankfurt zugänglich gemacht, ist das Leben und Werk von Rosy Lilienfeld (1896–1942) einer mehr als überfälligen Rehabilitation zu unterziehen. Die verschollene Künstlerin ist dem Expressionismus zuzurechnen, als Jüdin wurde sie 1942 in Auschwitz ermordet. Über die Umstände des Wiederfindens der kongenialen Arbeiten zu Kafkas Text berichtet in einem Nachwort im Buch die Direktorin des Jüdischen Museums, Dr. Eva Sabrina Atlan. Dort wird am 06. Juni auch die Präsentation von Die Verwandlung stattfinden.
Das Buch, das diese und Kafkas Geschichte in sich trägt, ist inhaltlich wie gestalterisch nichts weniger als ein Ereignis. Die Düsternis beider Linien, der narrativen wie zeichnerischen, verbindet sich hier mit einer hohen bibliophilen Güte, Würde und Kunstfertigkeit, die, auch wenn man das von Gilde gewöhnt sein mag, noch einmal etwas absolut Besonderes hat. Rosy Lilienfeld findet so treffende Bilder für das passive Aufbegehren Gregor Samsas und die sich, nun ja, abkühlende Umgebung seiner Familie, für die er, zum Tier geworden, jetzt völlig nutzlos ist, dass es den Leser und Betrachter schubbert. Und man zugleich die Augen nicht davon lassen kann ... So ist denn diese Neuausgabe der Verwandlung eines der schönsten, ja, und umtreibendsten Bücher der Saison.
Franz Kafka: Die Verwandlung. Mit Illustrationen von Rosy Lilienfeld und einem Nachwort von Eva Sabrina Atlan. Frankfurt am Main: Büchergilde Verlagsgenossenschaft, gebunden, fadengeheftet mit Lesebändchen, Rundumfarbschnitt sowie Prägung, 112 Seiten, ISBN 978-3-76327-471-0, für 28 Euro.
(André Schinkel)