Manchmal wünscht man, der Reigen der schönen und nahen Bücher möge nicht abreißen – im Anblick der momentanen Wurstförmigkeit der Welt zumal und ihrer mächtigen Brülläffchen zudem. Von daher muss man der Büchergilde Gutenberg ein Kompliment aussprechen: dass sie die, ach, schönsten und bedeutendsten ihrer Schöpfungen dagegenhält. Ja, es ist gleich noch ein wunderbares Beispiel dieser Bemühung zu nennen: Elias Canettis (1905–1994) Die Stimmen von Marrakesch. Das schmale Buch des Literaturnobelpreisträgers von 1981, der durch sein über mehrere Jahrzehnte hin entstandenes Großwerk Masse und Macht (1960) berühmt wurde, dürfte zum berührendsten und eindrücklichsten im, nun, ungewöhnlichen Œuvre des Meisters gehören – seine Schilderung des Überlebenskampfes in der marokkanischen Stadt kommt in einer Reihe Impressionen, Notate, wie sie für das Spätwerk Elias Canettis typisch ist, auf den Leser und nimmt ihn mit in das Herz der marokkanischen Metropole. Die Entstehung des Buchs ist dabei, auch canettilike, eine Geschichte der Langwierigkeit: Mit englischen Freunden, die dort einen Film drehen, reist Elias Canetti im Jahr 1954 nach Marrakesch. Rasch nimmt ihn der eigentümliche Zauber des Orients gefangen. Er streift durch die Stadt, besucht die Händler in den Suks, den Kamelmarkt, lauscht den seltsamen Rufen eines bettelnden Blinden, beobachtet die Schreiber und Erzähler, die ihm erscheinen „wie ältere und bessere Brüder“. Canettis bewegende Aufzeichnungen zu seiner Reise sind meisterhafte Miniaturen voller scharfer Beobachtungen, präzise in Worte gefasst – allerdings wird es ganze vierzehn Jahre dauern, bis er sie niederschreibt anhand von drei Seiten Notizen aus der Zeit der Reise. Der Name von „Marrakesch“ stammt aus den berberischen Sprachen und bedeutet soviel wie „Land Gottes“. Etymologisch kann das Wort also auch, bei allem Konstatieren südlicher Eigenarten und Exotik, der sich Canetti durchaus differenziert bedient, als Metapher für die Welt gelesen sein. Immer wieder kehrt der Beobachter zum Djemaa el Fna, zum „Versammlungsplatz der Toten“, wie der Markt-, ja, und ehemalige Richtplatz der Metropole heißt, zurück. In der dreizehnteiligen Canetti-Werkausgabe stellt Die Stimmen von Marrakesch die schmalste Rubrik dar, aber die Neugier und Wahrhaftigkeit der Texte frappiert immer wieder. In der Büchergilde wurde der Klassiker nun neu aufgelegt – mit 21 bisher unveröffentlichten Gouachen von Wolfgang Werkmeister. Und natürlich gibt es eine Vorzugsausgabe. Ein Buch, sich von der Welt ein wenig fortzuträumen. (Elias Canetti: Die Stimmen von Marrakesch – Aufzeichnungen nach einer Reise. Mit 21 Gouachen von Wolfgang Werkmeister. Frankfurt am Main: Büchergilde Gutenberg 2024. Hardcover mit Lesebändchen, 160 Seiten, ISBN 978-3-7632-7599-1, Normalausgabe: 32 Euro, Vorzugsausgabe (drei Motive zur Auswahl): 66 Euro.)
(Bert Blaubart)