Pirckheimer-Blog

Rezension

Fr, 04.10.2024

Diese "unversöhnliche" Ausgabe 14 der "MaroHefte" ("Der Prozess"), widmet sich einem heiklen Thema.

Maro: Ein unversöhnliches Heft

Es ist nicht der Prozess Frank Kafkas, das uns hier als MaroHeft #14 auf 36 Seiten in Englisch und Deutsch anblickt, nein, es ist auf ganz andere Weise ein unversöhnliches (so auch der zweite Untertitel der Maro-Neuerscheinung) Heft, eine Auseinandersetzung mit dem Völkermord an den OvaHerero und Nama durch deutsche Soldaten zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts im heutigen Namibia. Die zweisprachige englisch-deutsche Ausgabe in der Verfasserinnenschaft von Christiane Bürger und Sahra Rausch, übersetzt von Ryan Evers und mit Originaldruckgrafiken (Zyklus We are still waiting) der in Windhoek lebenden, arbeitenden Tuaovisiua Betty Katuuo bestückt, wirdmet sich damit einem so wichtigen wie aktuellen, heiklen Thema: Warum klagen die Nachkommen der OvaHerero und Nama seit Jahrzehnten erfolglos gegen die Bundesrepublik Deutschland? Was ist auf völkerrechtlicher Ebene passiert, seit deutsche Soldaten zu Anfang des 20. Jahrhunderts Zehntausende Menschen auf dem Gebiet des heutigen Namibia ermordeten? Und wie gelingt es dem deutschen Staat immer wieder bis heute, eine juristische Verurteilung wegen Völkermords abzuwehren? Anhand der Klagen, die die Nachkommen wiederholt einreichten, wirft dieses Heft einen Blick auf Deutschlands Umgang mit seiner Geschichte als frühere Kolonialmacht. Im Brennpunkt steht auch die Verfasstheit eines historisch gewachsenen Völkerrechts, das anti-rassistische Aktivistinnen und Aktivisten verstärkt einer postkolonialen Rechtskritik unterziehen ... Ein weiteres Mal führt Deutschland vor, wie es gelingt, die Forderungen der Nachkommen von Ermordeten abzuweisen – und zugleich als der große „Wiedergutmacher“ der Weltgemeinschaft aufzutreten. Ein unversöhnliches Heft über einen „Prozess“, der im gegenwärtigen Sturm der Epochenbrüche unterzugehen droht. Alle Informationen zum Heft und den anderen Heften der Reihe (mittlerweile sind zwei weitere Ausgaben der bibliophilen Reihe erschienen) finden sich hier.

(Kevin Konopke)

Di, 27.08.2024

Beste beste Freunde: Eichhörnchen und der Pilz Pok. Später gesellen sich zu Olivier Tallecs bekanntem Helden noch zwei weitere Anwärter für beste beste Freunde hinzu: Momo und Günther. Und die knifflige Frage, wie viele Freunde man braucht, ja, und auch verkraften kann, löst sich am Ende wie von selbst. Ein Plädoyer für die Freundschaft und die Offenheit.

Das Buch des Monats: „Mein bester bester Freund“ von Olivier Tallec

Wie ist das mit dem besten, nein, dem besten besten Freund in der Welt? Das fragt sich das neue Kinderbuch von Olivier Tallec, in dem das dem Kundigen (sic!) bestens vertraute Eichhörnchen eben diesem Reiz nachgeht. Das Büchlein, wunderbar in seinen Bildern und kleinen (das Zahnrädel der Geschichte, das ihm innewohnt, staunend Zahn um Zahn bewegend) Textportionen, ist soeben im Hildesheimer Gerstenberg Verlag in der Übersetzung von Ina Kronenberger erschienen. Es ist ein so sanftes wie lehrreiches Vergnügen, dem kleinen Nager bei der Entdeckung seines besten besten Freunds Pok zuzusehen; da ahnt man noch nicht, dass es zwei weitere Versuchungen des Eichhörnchens in Form der Mücke Momo und der Maus Günther (wer bis jetzt nicht wusste, dass Mäuse Günther heißen, wird nach diesem Buch abstreiten, dass es je hätte anders sein können ...) gibt. Die Frage des Büchels, das in so schöner Gestaltung auf den kleinen wie großen Leser kommt, beantwortet sich am Ende selbst; und das Wunder, dass es vielleicht (und gerade in dieser wurstigen Zeit) gar nicht schadet, sich letztlich nicht entscheiden zu können, wer denn nun der beste Freund ist, vollzieht sich jenseits des Konflikts, den das Eichhörnchen mit einem, nun ja, quasi Freundes-Urteil des Paris auf sich zukommen sähe. Es ist eine Botschaft des größeren Glücks, wenn man unter Freunden nicht aussuchen kann und mag, wer denn nun der beste ist ... Umgekehrt, also: unter Abgewandten einen Freund zu gewinnen, wäre viel härter. Gewinnend auch die Haltung des Eichhörnchens, nach einigem inneren Disput (herrlich in den begleitenden Monologen des Nagers) die Sache laufen zu lassen. Dreimal dauert es ein bissel, bis das Tier den neuen Freund-Aspiranten anspricht. Letztlich ergründet das Buch, wie es auch im Rückentext heißt, das tiefe Geheimnis der Freundschaft: Jeder kann es begreifen. So ein schönes Buch. Oja. Nun muss letztlich nur noch die Welt in Ordnung kommen ... (Olivier Tallec: Mein bester bester Freund. Für Kinder ab 4 Jahren, aus dem Französischen von Ina Kronenberger, Hildesheim: Gerstenberg Verlag 2024, HC, 280,0 mm x 200,0 mm x 10,0 mm, 40 Seiten, durchgehend farbig illustriert, ISBN 978-3-8369-6269-8, 15 Euro.)

(André Schinkel)

Fr, 02.08.2024

Im neuen "Bothen" besprochen: Gotthold Ephraim Lessings Stück "Die Juden", erschienen in der Edition Ornament, mit den feinen Grafiken Baldwin Zettls.

Hamburger Bothe 23 erschienen

Frischer geht es nicht in diesem heißen und blasenschlagenden Sommer: Am gestrigen 01. August erschien ganz layoutfrisch die neue, die 23. Ausgabe des Hamburger Bothen unter der Ägide der Pirckheimer-Freunde Rudolf Angeli und Peter Engel. Auf vierzehn pickepacke mit bibliophilem Engelsstaub belegten Seiten geht es wieder um alles, was das aufgeregte Herze des Bücherfreunds, des Büchernarren wie des Büchermanikers bewegt. Das Journal, neben den Marginalien nunmehr zum wichtigen Verständigungsorgan unter den Pirckheimer-Freunden geworden, entstammt noch der Stille des Corona-Wahnsinns, als es nicht statthaft war, gemeinsam die Köpfe über den Blättern und Einbänden, die die Welt bedeuten, zusammenzustecken; mittlerweile aber zeugt der Hamburger Bothe auch über die Lockdown-Agonie weit hinaus von der Vitalität der Gesellschaft ... und das ist auch gut so. Was gibt es im neuen PDF zu lesen. Zum einen empfehlen die Herausgeber die William-Blake-Schau in der Hamburger Kunsthalle, die vom 14. Juni an und noch bis zum 08. September in der Freien und Hansestadt zu sehen ist. Angeli und Engel verweisen zugleich darauf, dass es eine der wenigen Ausstellungen, die umfassend das Werk des Meisterlichen würdigen, außerhalb Großbritanniens seit vielen Jahren ist. Abel Doering verweist in der Empfehlung für den Bibliophilen auf eine Seltenheit aus der frühesten DDR-Zeit: Der verwundete Sokrates von Bertolt Brecht (1898–1956), die Erzählung aus den Kalendergeschichten eröffnete 1949 die Reihe Unsere Welt im neu gegründeten Kinderbuchverlag, damals noch in Berlin und Dresden beheimatet. Dann wird der Münchner Radierverein e. V. vorgestellt von Paul Hennig, gibt’s wieder einen Schnipsel aus dem Wandsbecker Bothen und Blicke auf das Janosch-Zentrum, die Stiftung Illustration sowie einen Primärtext von Cornelia Manikowsky. Und schließlich: Die Rezension zu G. E. Lessings Die Juden, wunderbar ediert von Pirckheimer-Freund Jens-Fietje Dwars, die ein Ereignis zudem sind im Verbund mit den herrlichen Stichen von Baldwin Zettl, der damit zugleich zum 80. geehrt wird. Wenn es ihn nicht schon gäbe, man müsste ihn erfinden, den Hamburger Bothen. Unter der E-Mail Rudolf_Angeli@web.de ist er zu haben. Wer möchte, kann auch um Post-Zustellung fragen.

(André Schinkel)

So, 28.07.2024

Hubert Schirnecks neues Buch „Der Tag der zweiten Wirklichkeit“ – erschienen in der Edition Hibana von Florian L. Arnold. Das Buch enthält eine Erzählung und zwei Zyklen Gedichte; es wurde vom Verleger vollständig farbig illustriert und komplett gestaltet.

Hibana: Hubert Schirnecks „Der Tag der zweiten Wirklichkeit“

Feinstes Buchwerk (zum überschaubaren Preis), das ist das Credo von Florian L. Arnold, der in Oberelchingen die Edition Hibana betreibt, ja, und er formuliert es selbst triftig mit: „Erwarten Sie alles!“ Und weiter heißt es: „Das Programm ist ganz einfach: Texte, die der Verleger wichtig und gut findet – ganz unabhängig von vermuteten Verkaufschancen. Hibana kann sich das erlauben, weil das Label unabhängig ist. Hier gibt es Bücher für Erwachsene, die sich mit guter Sprache und originären Inhalten auseinandersetzen.“ Der Verleger schätzt Autoren, die etwas auf der Textkante haben, Eigenartiges, Sonderbares, Seltenes und/oder Hinreißendes, das berührt, schmunzeln oder staunen macht. Und hat einen wunderbaren Glücksgriff getan mit Hubert Schirnecks Der Tag der zweiten Wirklichkeit, das die integrale Erzählung Der Tag des unablässigen Mondes enthält und eine Reihe Gedichte, die sich in den Zyklen Ausordnen und Totentänze gruppieren. Die Sprache des mehrfach geehrten Weimarer Dichters und Erzählers, der auch als Kinderbuchautor bekannt wurde, ist hier von einem innigen, geheimnisvollen, zuweilen skurrilen Timbre, und die Anlage und Anordnung der Texte saugt in diesen vollständig farbig von Arnold gestalteten und illustrierten Band kräftig hinein, dass einem schwirrig wird und ganz erhaben zugleich. Dunkel geht es da zu, leis oder epigrammatisch: „alles glück ist / von der lebensdauer / eines tropfens / der von einem blatt ins moos fällt // dieses leben lang / schläft der weg unter dir“; und am Ende zieht der Tod sich die Schürze an, die mit den Gänseblümchen. Darum gebaut sind die herrlichen Blätter und Farbgewitter Florian L. Arnolds, eine reiche Fülle auf gerade 88 Seiten. Was. Für. Ein. Schönes. Buch. (Hubert Schirneck: Der Tag der zweiten Wirklichkeit. Kurzprosa, Gedichte. Illustriert von Florian L. Arnold. Oberelchingen: Edition Hibana 2024, 88 Seiten, durchgehend farbig, Hardcover und Fadenheftung, im Format von 12 x 19 cm, Auflage limitiert auf 130 Exemplare, ISBN 978-3-946423-28-7, 21 Euro.)

(André Schinkel)

Sa, 27.07.2024

Roland Müller: „Caspar David Friedrich. Gedichte zu Bildern“, Moloko Print Bd. 226, Schönebeck: Moloko Plus 2024. KlBr., 60 S., ISBN 978-3-910431-35-5, 15 Euro, die Umschlagillustration von Lear Dark Rifflec.

Caspar David Friedrich: Roland Müllers Gedichte zu Bildern

Roland Müllers Werk ist ein noch weithin zu entdeckendes, der Großteil seiner Gedichte, Zyklen, Glossen und kleinen Geschichten erschien im Eigenverlag. So hat dieser Dichter eine eigenständige Heftreihe begründet, in dem, jahrgangsweise oder auch thematisch geordnet, seine Texte erscheinen. Der aus dem südlichen Brandenburg stammende und lange in Dresden Lebende indes bewegt sich in einem kleinen Netz- und Austauschwerk, und so kommt sicher auch die feine Publikation bei Moloko Print zustande, in der unter der Reihennummer 226 sich seine lyrischen Adaptionen und Exegesen zum diesjährigen, seinen 250. Geburtstag begehenden Jubilar Caspar David Friedrich in diesem Frühjahr erschienen. Und das ist ausdrücklich zu begrüßen, setzt doch Müller, unterstrichen mit dem gelb-schwarzen Cover des Nachfolgers seines 2021 im Radochla-Verlag erschienenen Gedicht-Bild-Bandes DenkMale in Dresden noch einmal einen erheblichen Aufmerksamkeitspunkt: auf CDF einerseits wie auch auf seine stille wie unbeirrbare, wie Friedrichs Kunst gegenständliche und doch leise schwirrende, nein, oft schwebende wie schwere ... meist konstatierende, teils fragende dichterische Arbeit. Roland Müllers Gedichte leben von geordneter, aus der Tradition schöpfender Metrik, die den Gedanken durch die Textur führt und von einem, in dieser von Chaos gezeichneten Epoche zumal, berückenden Reiz ist: alternierend, klassisch gereimt, ganz da und doch auch über die Zeit tönend, wie es einem Gegenstand wie CDF und dessen Jubiläum angemessen ist. Jedem der Texte ist ein Kunstwerk von Friedrich beigestellt, das behutsam vom Autor, in seinem Berufsleben eine Zeitlang typografisch tätig, mit einer speziellen Methode stets ein My neben die Spur gesetzt ist. Ergänzt durch die Cover-Adaption von Lear Dark Rifflec, wundervoll gestaltet, ergibt sich mit den so sicher wie zerbrechlich sprechenden Texten Roland Müllers ein schönes Buch, das man mit sich herumtragen mag. Dem Mann und seiner künstlerischen Arbeit im Weinberg des Nowendigen, ja, und Triftigen ist Aufmerksamkeit zu wünschen und dass sich Moloko seiner dauerhaft annimmt. 

(André Schinkel)

Mo, 08.07.2024

"Am Rand entlang", der jüngste Gedichtband von Harald Lindig fasst in vier Kapiteln ausgewählte und neueste Gedichte des Autors aus Manebach ganz in der Nähe der Goethestadt Ilmenau. Das Lyrik-Buch ist im Verlag von Harry Ziethen erschienen und mit sechs Kaltnadelradierungen von Frank Rothämel aus dem südthüringischen Zella-Mehlis ausgestattet.
Bei der Suhler Premiere des Buchs. | © Holger Uske

Lindigs lyrische Landschaften

Zum neuen Gedichtband „Am Rand entlang“ des Ilmenauer Autors Harald Lindig 

Harald Lindig ist seit Jahrzehnten eine markante Größe im literarischen Südthüringen. Mit seinen verspielten, phantasievollen und zumeist den gängigen Begriff gerade angesagter Literatur konterkarierenden Arbeiten stößt er immer wieder auf große Resonanz. So geschehen auch bei den Premieren seines neuen Gedichtbandes Am Rand entlang am 18. Juni 2024 in Ilmenau und am 19. Juni in Suhl. Wer Lindigs Auftritte kennt, weiß, dass er dabei nichts dem Zufall überlässt. Sein Vermögen, die Zuhörer auf seine poetischen Ausflüge mitzunehmen, ist beeindruckend und spiegelt sich in seinem im Oschersleber Dr. Ziethen Verlag erschienenen 96-seitigen neuen Band. Lindigs thematische Vielfalt reicht von den letzten Geheimnissen der ihn umgebenden Thüringer Landschaft – zuweilen gespickt mit Kindheitserinnerungen – über eingestandene Distanz zu kommunikativen Verzerrungen bis zu tief durchlittenen Erfahrungen. Wie sonst käme Wahrheit ins Gedicht? Mit dem Buch setzt der Autor einen weiteren Meilenstein auf seinem literarischen Weg. 

Herausgeber André Schinkel aus Halle, der seit langem der Südthüringer Szene zur Seite steht, sagt zu der neuen Publikation in seinem Nachsatz: „Harald Lindig hat ... über die Jahre eine ganz und gar eigene Stimme entwickelt und bewahrt – sein Gedicht ist scharf im Sinn und konkret wie poetisch in der Ansprache zugleich, changierend zwischen großer Sicherheit im Tritt und Aufbegehren für die Wahrheit in den Dingen.“ Dem studierten Physiker Lindig gelingt es in seinen Texten, seine überbordende Fantasie in ein Spannungsfeld zu setzen zur allzu oft scheinbar banalen Wirklichkeit. In Kopfbahnhof heißt es beispielsweise: „Treppen fluten Vorhallen, / Katzen jammern hinter den Türen / der Schließfächer, / in den Höhlen der Unterführungen / lauert das Vorübergehen.“ In Wildnis ist zu lesen: „Berge ballen / Permafrost-Fäuste.“ Der Leser ahnt das Verhängnis, das hinter diesen Zeilen wohnt, das scheinbar einfach Gesagte birgt auch die Gefährdungen unserer Welt. Der Dichter Harald Lindig spielt subtil mit Wahrnehmungsmustern wie einst der „Kleinen Hufeisennase“ (im Gedicht Bumerang), vermag aber ebenso die Schönheit des Augenblicks einzufangen wie in Nach Mitternacht, wo von einer weißen Katze „mit dem Halsband / aus Mondleuchten / unten am Gartentor“ die Rede ist. Ebenso verfremdet er Erlebtes – und kehrt dabei zum Eigenen zurück, wie in Durchs Moor zu lesen: „hinter den Feldern / tröste ich die Roggenmuhmen / die ermattet an den Böschungen / der Wege liegen // sie aber helfen mir / aus meiner alten Haut“.

Lindigs lyrische Landschaften sind oft leicht im Ton, fast immer hintergründig, in jedem Falle aber überraschend in den poetischen Wendungen. Ihnen sind fünf Tuschzeichnungen und Kaltnadelradierungen des Zella-Mehliser Künstlers Frank Rothämel zugesellt, die den Blick auf die Wege am Rand entlang erweitern. So zugewandt Lindig auch agieren mag, sein Vertrauen in das Funktionieren der Gesellschaft hat, auch aufgrund seiner 70-jährigen Lebenserfahrung, deutliche Risse erlitten. Im Titelgedicht Über den Rand heißt es zum Schluss: „im Sonnenwind / Glutnester treiben / sorgsam unbewacht / Farben wechseln // sich hüten / vor den Menschen“. Diese lyrische Stimme aus dem Ilmenauer Ortsteil Manebach sollte als Bereicherung der mitteldeutschen Literaturlandschaft unbedingt Gehör finden. (Harald Lindig: Am Rand entlang. Neue Gedichte. Mit Grafiken von Frank Rothämel. Ausgewählt von André Schinkel. Br., Oschersleben: dr. ziethen verlag 2024. 96 Seiten. ISBN 978-3-86289-237-2. 15 Euro.) 

(Holger Uske)

So, 16.06.2024

Das Coverbild des Caroline-von-Humboldt-Porträts von Heidelore Kneffel schuf die, wie die Autorin in Nordhausen (Harz) lebende, Künstlerin Katrin Kisker.

Gelesen übers Jahr: Ein Porträt von Caroline von Humboldt

Der Einband des Buches zeigt eine Collage mit dem Antlitz der Caroline von Humboldt (1766–1829). Das berühmte Originalbild malte Gottlieb Schick (1776–1812) 1804 in Rom. Die Schöpferin dieser Kopie ist die Nordhäuser Künstlerin Karin Kisker, die eng mit Heidelore Kneffel, über viele Jahre die gute Seele des Sarah-Kirsch-Vereins, der in Limlingerode im Geburtshaus der Georg-Büchner-Preisträgerin über ein Vierteljahrhundert einen Reigen an Veranstaltungen und Aktionen entfesselte, zusammenarbeitete und -arbeitet. Heidelore Kneffel (*1944), die heute am Bloomsday einen runden Ehrentag feiert, die, wenn man den Fernmeldungen trauen darf, heute wandert und nicht erreichbar ist, ist eine Frau, auf die das Wort „taff“ im schönsten Sinne zutrifft – und der man, wenn sie es nicht längst bekommen hätte, am heutigen Tag das Bundesverdienstkreuz als Dank und Ehre antragen müsste, hat sich verdient um die Kultur ihres Heimatlandstrichs: als Lehrerin, als Beigeordnete, unbeugsame Streiterin für die gute Sache, nun, und als die „Heidelerche“, wie sie von Sarah Kirsch (1935–2013) zärtlich genannt wurde, ja, und eben als Forscherin, gemacht. Auch wenn die Begegnungsstätte heute aus trüben Gründen, die aus Gründen der Abgründigkeit in so einem Glückswünsch nicht diskutiert werden mögen, in Limlingerode nicht mehr existieren darf, arbeitet der Verein weiter, bespielt mit Erfolg Einrichtungen in Heidelore Kneffels Heimatstadt Nordhausen, in Bleicherode und Heringen mit Lesungen, Ausstellungen, Diskursen zu Kunst und Literatur. Und die „Heidelerche“, selbst Liebhaberin/Sammlerin, gibt sich der Erforschung der zu hebenden Schätze anheim, wie eben der Geschichte von Caroline von Humboldt, die, gebürtige Dacheröden und Frau von Wilhelm von Humboldt (1767–1835), als Verschwisterte in Sachen Kunst- und Literaturliebe über die Jahrhunderte hin zu gelten hat. Das dicht gepackte und tief recherchierte Buch leistet im besten Sinne Aufklärung, eine Tugend, wie sie dieser Zeit gut stünde. Und öffnet damit den Blick auf die Dinge, die eben auch seine Verfasserin treiben ... ja, wer sich darauf einlässt, hört hinter den Zeilen und Bildern die wissende und in alle Richtungen höchst informierte Stimme von Heidelore Kneffel sprechen. Und so soll es ja sein. Und schon, weiß man aus gut informierter Quelle, arbeitet die zu Bejubelnde an neuen Projekten. Liebe „Heidelerche“, dafür einen großen Lichtstern: Alles Gute zum Geburtstag! (Heidelore Kneffel: Ich habe mit den Kunstsachen ... aufs Vertrauteste gelebt. Caroline von Humboldt, geb. Dachenröden, und ihr Leben der Poesie. Atelier Veit: Nordhausen 2023, 240 Seiten, mit zahlr. Abbn. und Illn., ISBN 978-3-948269-05-0, 25 Euro.)

(André Schinkel)

Do, 18.04.2024

Der Dichter Wilhelm Bartsch lebt in Halle. Seinem Debüt "Übungen im Joch" folgten eine Reihe Bände: Gedichte, Erzählungen, Romane, Nachdichtungen und Essays. Er wurde u. a. mit dem Brüder-Grimm-Preis sowie mit dem Wilhelm-Müller-Preis geehrt.
"Hohe See und niemands Land", bei Wallstein 2024.
In seinem neuen Buch spricht Bartsch mit einigen der großen Vorausgänger: St. Brendan, Shakespeare, den mitteldeutschen Dichtern Novalis und Hilbig.
Unser Rezensent Axel Helbig war viele Jahre Geist und Seele der Zeitschrift "Ostragehege". Er lebt als Autor, Kritiker, Publizist, Herausgeber in Dresden.

Buch des Monats II: „Wir selbst im Honiglicht sind Trauermücken“

Eine Paraphrase auf William Shakespeares 87. Sonett eröffnet Wilhelm Bartschs opulenten Gedichtband Hohe See und niemands Land. Aus Shakespeares ironischem Abrechnungsgedicht an einen Freund wird bei Bartsch ein Abrechnungsgedicht an „Frau Welt“, die doppelgesichtige Begierde, die den Menschen blind macht: „Soll ich mit dir im Sturm wie Lear noch tanzen, / Bis du mein Werk und mich zerbrichst zuletzt? / Schon hast Du mir den Virus der Bilanzen / Als Krone der Erschöpfung aufgesetzt. / Hoch fuhr ich aus dem Traumreich der Aufmotzer / Als König zwar, doch König der Schmarotzer.“ (Aus: Mein Eigentum.) 

Ehrlicher kann ein Gedichtband nicht ansetzen. Und dieser Ouvertüre folgen noch weitere Texte mit geradezu philosophischen Selbsteinsichten und Selbstermunterungen. „In Form zu bleiben“, erprobt sich Wilhelm Bartsch an Skakespeares Sonettform und vertreibt „mit solchem Sturm die Zeitgeisttricks“. Das Ziel ist klar: „Zur hohen See, zu niemands Reede hin, / Da liegen Shakespeare – Dante – Hölderlin –“ (Aus: Shakespeares Form.) Aber der Band ist mehr, er ist ein Fahrten- und Welten-Buch, in dem sich das lyrische Ich auf gefährliche Reisen zu Wasser und zu Land und durch Raum und Zeit begibt ... Der Wanderer kommt nach Auschwitz-Birkenau und nach Palmyra. Der Seefahrer bis ans Nordmeer. Mit St. Brendan „the Navigator“ nach „Anderswelt“ segelnd, „pinselt er seefahrende Gedanken (ins) Logbuchpalimpsest.“

In den angefügten Anmerkungen zu den Gedichten schreibt Bartsch, dass es dieser Anmerkungen nicht bedürfe. Das stimmt. Bartschs Gedichte sind ein Fest der Sprache und der Sinne, das keiner weiteren Erklärung bedarf, um den Leser in diesem Sprachstrom mitzureißen. Vor manchen Gedichten steht man wie vor einem Naturereignis, einem Nordlicht, einem Blick ins Alpental. Dennoch lohnt es sich, den Anmerkungen nachzugehen. Man erfährt nicht nur, dass der in Irland verehrte Heilige Brendan möglicherweise 900 Jahre vor Kolumbus in Amerika war, oder dass Arno Schmidt, das Urbild für seine Franziska (Hauptfigur in Zettels Traum) dem Unterwäsche-Katalog Mona entnommen hat. In Summa staunt man, welche Welt- und Querbezüge in ein Gedicht hineinreichen können. Diesen Hinweisen des lyrischen Enzyklopädisten Bartsch nachzugehen, macht Spaß, führt zu höherer Bildung und ist allemal besser, als den Zeitgeisttricks zu folgen. 

Ein anderer Heiliger von Wilhelm Bartsch ist Wolfgang Hilbig (1941–2007), sein Freund und Anreger: „Zwar zeitenkrank, doch sicher reist Sankt Hilbig / Auf seinem Rettungsfloß ,Misere‘. / Sein Unstern führt ihn sicher übers Meer / Von Katastrophe hin zu Katastrophe … // Er folgt so einzig seinem reziproken / Gesetz des Widerstands: je hässlicher / Die Fahrt wird, desto schöner, wird erniedrigt / Sankt Hilbig, kriegt er Größe, und je mehr / Die Nacht der Irrfahrt steigt, wächst auch die Klarheit, / Nur aussichtslose Fahrt führt hin zur Lösung …“ (Aus: Rettungsfloß „Misere“.)

Ein anderer Bezugspunkt ist Gottfried Benn (1886–1956), dessen Intentionen und Sprachgefühl Bartsch in mehreren Gedichten nachgeht. Benns und Bartschs Melancholie sind sich verwandt. Da ist ein Wissen um Schönheit, eine Trauer um ein Menschsein, welches das Wunderbare und Schöne zerstört: „Wir selbst im Honiglicht sind Trauermücken / mit dieser ewig großen zähen Geste, / in diesem Ballkleid nur aus Todesschlieren / und bald schon tief im schwarzen Flöz der Zeit.“ (Aus: Trauermücken.) – „Kann sein, wir wissen kaum was von der Welt, / Nur wie wir, Wüsten bergend, uns ermorden / Und nur, was für uns zählt, auch zählen: Geld. / Wir sind, die schießen, prellen und umhauen, / So prellt und schleudert uns nun selbst das Grauen.“ (Aus: Vulpus volatus.)

Den fünf Abschnitten des Bandes sind jeweils Motti vorangestellt, die den Grundton der Gedichte vorgeben. Vor dem zweiten Abschnitt steht ein Gedanke von Novalis (1772–1801): „Die Natur ist Feindin ewiger Besitzungen. Sie zerstört nach festen Gesetzen alle Formen des Eigentums ...“ Der letzte Text des Bandes ist einer Frau gewidmet, ihr verdankt sich – neben Shakespeare – auch das Buch. Sie ist das Du in vielen Gedichte, oft Gefährtin auf See und zu Land. An sie – die alte neue Liebe – richtet Wilhelm Bartsch manch zarte Zeile und Sonett in diesem Buch:

Du hörtest, dass ich’s war, an meinem Schritt
Noch hinter dir und nach so vielen Jahren.
Auch Du gingst ja für immer mit mir mit,
Ich wusste es auf einmal mit den Haaren.
Waren wir denn so unlösbar verknüpft,
Als hätte nicht die Zeit das Band zerrissen?
Ein Kind der Zeit war ich, das springt und hüpft,
Es fiel mir sogar leicht, dich zu vermissen,
Ich nahm dich tief in mir wohl nicht mehr wahr.
Glück, blinder Passagier dort im Versteck,
Auf hoher See erst wird es offenbar: 
Dein Steuerrad, mein Schritt an Deck.
Doch wer zur See fährt, hofft auch, dass er landet, 
Dass Liebe Liebe bleibt, noch wenn sie strandet.

(Du hörtest, dass ich’s war.)

Wilhelm Bartschs Sonette lesen sich, als hätte er diese lyrische Form soeben erschaffen, kein Staub klebt an den Versen, sie lesen sich geschmeidig und rhythmisch. Diese Gedichte regen den Geist an wie ein Gang durch die Natur. (Wilhelm Bartsch: Hohe See und niemands Land, Gedichte, Göttingen: Wallstein Verlag 2024, 140 Seiten, geb., ISBN 978-3-83535-393-0, 22 Euro.)

(Axel Helbig)

Do, 07.03.2024

Michael J. Wendel: "Die Truhe", Beier & Beran 2023. Das Buch des Archäologen erzählt von der Akribie und Leidenschaft eines Forschers wie zudem vom in der Gegenwart unserer Jahrzehnte noch möglichen Abenteuer der Archäologie als der grundlegenden Gelehrsamkeit des Wissens auch um die Jetztzeit zugleich. Und schließlich ist es ein Buch, das vom Mut, den das Leben wie das Schicksal von einem immer wieder fordert, Zeugnis gibt und berichtet. Für seine Verdienste bei den Ausgrabungen im nord-thrakischen Karasura wurde Michael Wendel 1997 mit der Ehrenbürgerwürde von Tschirpan geehrt.

Gelesen übers Jahr: „Die Truhe“

Es möge keiner behaupten, es ließen sich auch seit der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts keine Abenteuer in der Archäologie mehr erleben! Die Himmelsscheibe von Nebra, die nach wie vor aufsehenerregenden Grabungskampagnen in Ägypten und Lateinamerika erzählen davon; und ganz Europa bietet nach wie vor erstaunliche Entdeckungsmöglichkeiten. Die Erinnerungen eines Prähistorikers, ausgewiesener Kenner der eisenzeitlichen Kulturen Europas von der Antike bis zum Verlöschen der letzten heidnischen Gesellschaften der altslawischen Siedler in der Mitte des Kontinents erzählen dies auf beeindruckende Weise ... Michael Wendel, 1945 in Sachsen geboren, hat sich einen Namen als Forscher wie als Dozent gemacht, er arbeitete in Berlin an der Akademie der Wissenschaften der DDR und war noch eine Reihe Jahre Dozent am Institut für Prähistorische Archäologie der halleschen Universität. Darüber hinaus und vor allem aber ist sein Nimbus mit den langjährigen Ausgrabungen in Karasura in Bulgarien verbunden, die ihm viel Beachtung und letztlich eine Ehrenbürgerwürde einbrachten. Die Fundstelle, die sich in Nordthrakien in der Nähe des Dorfes Rupkite befindet, birgt eine spätrömische Wegestation, ihr reicher Fundbestand wurde zur archäologischen Legende. Von seinem Leben erzählt der heute wieder in Sachsen Lebende in mehreren Bänden, zuletzt erschien sein reichbebildertes Erinnerungs-Kompendium Die Truhe bei Beier & Beran, im ausgewiesensten Archäologie-Verlag in Mitteldeutschland. Der Höhepunkt dieses Archäologenlebens ist zweifellos die Grabungstätigkeit an dem Siedlungshügel (Tell) in der Nähe der Stadt Tschirpan, eine Arbeit, bei der Wendel im Verbund mit seinen bulgarischen und deutschen Kollegen Nachweise für insgesamt 6.000 Jahre Besiedlungsgeschichte auf dem Balkan erbrachte. Aber auch sonst ist die Art und Weise, wie der Autor leidenschaftlich und akkurat, aber auch immer wieder mit einer Prise ihm eigenen Humors und Muts zur Klarheit seinen Werdegang erzählt, an das Herze, den Solarplexus gehend nicht nur für Prähistoriker. By the way: Ich danke Michael Wendel wie viele meiner Kommilitoninnen und Kommilitonen einen tiefen Blick auch in die eigene Geschichte: Sind doch die altslawischen Kulturen mit der Historie wie der Prähistorie Mittel- und Osteuropas eng verbunden. Als ich vor einigen Jahren in Wolin vor der Kirche stand, die das alte Zentrum der Stadt Vineta kennzeichnen könnte, habe ich daran gedacht. Ein Einblick, für den ich ihm wie meinen beiden akademischen Lehrern Klaus-Dieter Jäger (ohne den ich wohl gar nicht Archäologe geworden wäre) und François Bertemes (der Goseck ausgrub) dankbar bin. Und schlussendlich erzählt dieses Buch auf seinen fast 500 Seiten wie seine Belletristik-Vorgänger Blumenkohl im Kopf und Blumenkohl mit Nachschlag auch von Schicksalsschlägen und wie man sich daraus ins Leben zurückkämpft. Und das verdient höchsten Respekt. (Michael J. Wendel: Die Truhe. Langenweißbach: Beier & Beran 2023, br., 472 Seiten, ISBN 978-3-95741-191-4, 19,90 Euro.) 

(André Schinkel)

Mo, 04.03.2024

Till Sailers Annäherung "Der Krieg meines Vaters" ist im halleschen Mitteldeutschen Verlag erschienen.
Eine Auswahl der Gedichte seines Vaters aus den Jahren 1931 bis 1939 gab Pirckheimer-Freund Till Sailer 2021 bei quartus in Bucha bei Jena heraus.

Till Sailer: „Der Krieg meines Vaters. Eine Annäherung“

Geht das überhaupt zusammen: Schöne Gedichte, geschrieben von einem Völkischen, den man mit einigem Recht auch Nazi nennen könnte? Ja, es geht. Was schon bei Gottfried Benn und Martin Heidegger zu studieren war, es trifft auch auf Herbert Sailer (1912–1945) zu: Ästhetik, Kunstsinn, Lyrik, Philosophie und Barbarei schließen sich nicht immer aus. Auch ein so großartiger Dichter wie Johannes R. Becher hat eine Danksagung an Stalin verfasst, vor dessen Regime er gezittert hatte.

Es ist ein mutiges Unterfangen des Schriftstellers Till Sailer, des Sohnes von Herbert Sailer, sich des lyrischen Erbes und des Lebens seines Vaters anzunehmen und eine „Annäherung“ zu schreiben. Ja, Annäherung, sagt der Untertitel des Buches Der Krieg meines Vaters. Wie anders auch soll der Umgang mit den nun schon sehr fernen Leben der Mütter und Väter unserer Generation – also der während des Krieges und der kurz danach Geborenen geschehen? Besserwisserei und das Nichts-damit-zu tun-haben-Wollen, wie ich es von mir kenne, erwiesen und erweisen sich als unnütz.

Diese Worte trafen mich, beschreiben sie doch haargenau meine Empfindungen gegenüber meinem Vater, dem ich zugetan war, der aber auch fern blieb mit seinem Leben im Zweiten Weltkrieg und den Jahren sibirischer Gefangenschaft. Und der bis auf ein paar „Anekdoten“ schwieg … Und wie ergeht es einem, wenn man auf eine dichterische Hinterlassenschaft trifft, wie man sie bei Herbert Sailer finden kann, eine gehaltvolle, tiefgründige und innige Lyrik? „Ich weiß, du liegst jetzt ganz allein / und keiner kommt und deckt dich zu. / Du möchtest nichts als müde sein / und keiner kommt und deckt dich zu. / Du liegst, vom Sturz der Tränen blind / und keiner kommt und deckt dich zu. / Und frierend horchst du in den Wind / und keiner kommt und deckt dich zu.“ Und gleich darauf vielleicht das Blatt mit: „Die feste Stirne helmbewehrt, / der Brauen Bogen ohne Fehl, / das Aug’, hell in den Tag gewandt, / grau wie der Waffe blanker Stahl …“ Und – mit solchem Trara ist das völkische Kitschgefäß Herbert Sailers noch lange nicht ausgeschöpft.  

Es ist ein solcher Widerspruch nicht zu lösen. Till Sailer geht den die Distanz ermöglichenden Weg, dass er diesen Mann, seinen ihm fast unbekannt gebliebenen Vater betrachtet als jemanden, „der mir wie eine literarische Figur erscheint.“ So gelingt es ihm, das wahrlich nicht unkomplizierte Leben Herbert Sailers zu erzählen, eines Erziehungswissenschaftlers, NSDAP-Mitglieds und Reichsjugendführung-Funktionärs, des Lehrers an nationalsozialistischen Eliteschulen, Soldaten, Verwundeten, eines „Volkssturm-Mannes“, der immer Dichter war und es blieb bis zu seinem frühen Ende am 13. April 1945. Noch im März hatte er sich in einem Gedicht gefragt, wie viele Tage noch das „Licht kündet“. Eine Zeile weiter verrennt er sich in das Hirngespinst, das damals wohl viele teilten, nämlich die ganze Erde habe sich „wider uns verbündet“. Und was bleibt? Die „Pflicht“! In anderen Gedichten sieht er das Elend, die Sinnlosigkeit des Krieges sehr genau. 

Mehrmals kommt in den Gedichten Herbert Sailers die Ukraine vor, das Land, in dem der Krieg schon wieder grausige und nahe Wirklichkeit ist. Gewiss hat auch diese schlimme Aktualität Till Sailer bewogen, die Texte seines Vaters öffentlich und zugänglich zu machen. Und so sehr man dem Autor darin folgen kann, diesen Herbert Sailer, seinen Vater, als literarische Figur zu betrachten, um überhaupt mit ihm „umgehen“ zu können, so tritt dieser mit dem Wort Ukraine doch in eine beklemmende Realität, denn so sparsam die Mitteilungen meines Vaters aus seiner Vergangenheit auch waren: Dieses Wort kam vor. Er sprach es, wie viele seiner Generation Ukreine aus. Das schon etwas ermüdete Wort, dass die Vergangenheit noch nicht einmal vergangen sei, es ist doch wahr!

Dieses mutige Buch Till Sailers bietet die seltene Gelegenheit, in die Gedanken-, Gefühls- und Vorstellungswelt einer nur scheinbar fernen Zeit zu gelangen. Es antwortet auf Fragen, die vielleicht nie gestellt wurden, oder die keine Antwort fanden. Es zeigt, dass Kunstsinn, Intelligenz, Sensibilität und Kriegsbrutalität sehr nahe Nachbarn sein können. Es stellt auch die Frage, wie stark unsere „Kulturhaut“ ist in Zeiten, da wieder von „Kriegstüchtigkeit“ geredet wird. Und darum ist diese „Annäherung“ bitter nötig. (Till Sailer: Der Krieg meines Vaters. Eine Annäherung. Halle an der Saale: Mitteldeutscher Verlag 2023. Broschiert, 308 S., ISBN 978-3-96311-815-9, 20 Euro.)

(Albrecht Franke)

Di, 12.09.2023

"Wovon man spricht, das hat man nicht", erschienen als Jahresgabe der PG im Mitteldeutschen Verlag.
Das Grab des geehrten Dichters der Frühromantik in Weißenfels. | © by Doris Antony (via CC BY-SA 3.0)
Der Autor und Kritiker Albrecht Franke aus Stendal.

Forever Young, oder: Niemals alt. Ein Buch für den Dichter Novalis

Für Novalis (Georg Philipp Friedrich von Hardenberg), einen der wichtigsten Romantiker und Erfinder der „Blauen Blume“ (1772–1801), könnte das fast [nach dem ikonischen Alphaville-Song/ Album von 1984] zum Klischee gewordene „Forever Young“ gelten. Er ist im Gedächtnis geblieben als der junge Mann, als den ihn das berühmte Porträt zeigt. Dabei klingen seine Texte, denken wir nur an die Hymnen an die Nacht oder den Roman Heinrich von Ofterdingen, immer gewichtig, geprägt wie von Altersweisheit. Dennoch benannte sich in den 1970er Jahren eine Rockband nach ihm, setzte seine Verse in Musik, zum Beispiel jenes berühmte Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren … Immer wieder erweist sich der trotz seines fragmentarischen, seltsam rauen und zerspaltenen Werkes Frühvollendete als Stichwortgeber und Anreger für die Gegenwart.

Das geschah auch 2022. Es galt, an den 250. Geburtstag des Dichters zu erinnern. Darum baten das Literaturhaus Halle und dessen Leiter, Alexander Suckel, „befreundete Kolleginnen und Kollegen, Gäste des LHH in den letzten Jahren … Texte, zu verfassen.“ Ziel sei eine Auslotung des „Kosmos“ Novalis, indem seine Poetik von unterschiedlichen Stimmen sozusagen ins Heute transponiert würde. Der thematische Ansatz „Wovon man spricht, das hat man nicht“ zeigt die ironische Seite Novalis’, denn in den Dialogen [postum 1802], woher das Zitat stammt, sprechen die Gesprächspartner vom Wein und vom Verstand. Das Vorwort führt den Leser instruktiv ins Buch ein, erklärt, in Anlehnung an Bert Brechts eigentümliches Gedicht Die Teppichweber von Kujan-Bulak ehren Lenin [1929, zuletzt in den Ausgaben der Kalendergeschichten ab 1949], dass die Autoren sich ebenfalls nützten, indem sie Novalis ehren, wie einst die Teppichweber Lenin. 

Die Autoren, man kann sich über sie am Ende des Buches informieren, sind in der Reihenfolge ihres Auftritts: Karl-Heinz Ott, Clemens Meyer, Jens Jessen, Torsten Schulz, Martin Becker und Greta Taubert, Eike Goreczka und Katrin Schumacher. Damit sind verschiedene Genres und Herangehensweisen, Ausdeutungen, Bezüge garantiert, die ein abwechslungsreiches Lesevergnügen bescheren. Vergnüglich auch der wie in Schreibschrift gehaltene Novalis-Bezug, dem Erzählung, Essay, Reminiszenz usw. folgen. Nur am Buchende wird das Prinzip einmal durchbrochen, indem (aus dem Kunstprojekt Gast – Portrait – Antwort des Literaturhauses) eine Radierung von Sven Großkreutz mit einem kurzen Text von Katrin Schumacher „beantwortet“ wird – es ist dies eine der schärfsten, prägnantesten „Begegnungen“ mit Novalis, deren Zeuge man im Buch werden kann.

Man sollte dieses Buch nicht lesen, wie man sonst liest. Ich empfehle, das Inhaltsverzeichnis aufzuschlagen und sich von den Titeln der Beiträge gefangen nehmen und in eine romantisierte und poetisierte Welt führen zu lassen: Zu Krautrock und Hydrogeologie, um in Erinnerungen an die Band Novalis zu gleiten. Durch eine Verklärte Nacht zu fahren, in einer seltsamen Kutsche, wo aus einem Tintenklecks doch noch die Blaue Blume wird. Dann eine Liebeserklärung an Novalis zu lesen, die nicht dem hübschen jungen Mann gilt, sondern einem Dichter, dem wir eine „Entlarvung Goethes“ verdanken. Man kann nachempfinden, wie sich einem heutigen Schriftsteller Zugänge zu Novalis erschlossen oder von einer sehr gut zu lesenden philosophischen und literarischen Ausdeutung Novalis’ bereichert werden, obwohl deren Titel vom Nichtssuchen, sattem Herzen und leerer Welt spricht. Oder ganz in der Gegenwart ankommen beim Heimischwerden und doch sehnsuchtsvoll Fremdbleiben einer Familie, die vor dem Krieg in der Ukraine geflohen ist, deren Begleiter man als Leser wird. 

Und: Die Notwendigkeit der „Poetisierung“ vorgeführt zu bekommen und begreifen zu lernen; Worte zu lesen, die man sich angesichts eines desolaten Welt- und Umweltzustands ins Notizbuch übertragen sollte: „Mit der Poesie können wir in der Trauer um das Aussterben die Freude an der Lebendigkeit entdecken. […] Mit dem poetischen Blick können wir diese große Liebesbeziehung wahrnehmen, sie ästhetisieren und zelebrieren – und uns damit für die bevorstehende Traurigkeits-epidemie rüsten.“ Das hätte wohl auch Novalis unterschrieben und vielleicht sein Siegel darunter gesetzt. Es lohnt sich der Besuch in der Novalis-Welt und der seiner Nachfolger, die seine Gedanken aufnehmen und zeigen, dass sie alles andere als „längst vergangen“ sind, sondern wie gemacht für uns und die Gegenwart. Die Blaue Blume der Romantik wird genauso wenig alt wie ihr Erfinder. 

Das Buch ist von einer Schönheit der Buchgestaltung, wie sie leider selten geworden ist heutzutage. Man bekommt die Blaue Blume zu fühlen, wenn man es in die Hand nimmt. Denn die Buchdeckel sind davon übersät. Doch damit nicht genug: Der hallesche Grafiker und Maler Sven Großkreutz schuf eine Radierung von Novalis, die man auf der Seite 108 findet. Und es liegt dem Buch ein weiteres Novalis-Motiv des Künstlers als Originalabzug bei, als Jahresgabe der Pirckheimer-Gesellschaft. Diese liebt, so ihr Leitgedanke, Bücher und Graphiken ... alles, was schön ist. Mit diesem Buch hat sie sich selbst, den Romantikbegeisterten, jedem Bücherfreund ein Geschenk gemacht. (Wovon man spricht, das hat man nicht. Neue Texte zu Novalis, hrsg. vom Literaturhaus Halle, für die Mitglieder der Pirckheimer-Gesellschaft mit einer Radierung von Sven Großkreutz. Halle: Mitteldeutscher Verlag 2023, Hardcovereinband, 114 S., ISBN 978-3-96311-752-7, 16 Euro.)

(Albrecht Franke)

Do, 29.03.2012

Heidrun Hegewald

Der 75. Geburtstag von Heidrun Hegewald am 21. Oktober 2011 gab Anlaß, in ihrem gerade erschienenen Buch mit dem von Marivaux entliehenen Titel Ich bin, was mir geschieht zu lesen, und die Lektüre fesselte. Bei diesem, vom Verlag Neues Leben als Biographie bezeichneten Titel handelt es sich um eine Sammlung publizistischer Arbeiten der Malerin aus den letzten 20 Jahren, wobei den Texten schwarzweiße Abbildungen ihrer Werke beigefügt sind. Das Büchlein, 160 Seiten im Oktavformat zum Preis von 9,95 Euro, wurde auf 120gr Offsetpapier im Digitaldruck produziert und ist ordentlich in einem von Michael de Maizière gestalteten festen Pappband gebunden. Man nimmt es gern in die Hand. Allerdings setzt der an sich richtig vorangestellte Hinweis des Verlages: »Die Abbildung der Arbeiten von Heidrun Hegewald … folgt keiner illustrativen Absicht. Assoziation ist hoffentlich unvermeidlich«, etwas voraus, was das Buch gar nicht halten kann, denn die Bildchen, und das soll meine einzige Kritik an diesem Bändchen sein, sind leider teilweise recht klein geraten und werden weder der tatsächlichen Größe der Arbeiten noch dem geradezu philosophischen Gehalt der Texte gerecht.
Die Texte der Heidrun Hegewald erklären mit dem scharfen Blick einer Rosa Luxemburg die spätkapitalistische Wirklichkeit und beschreiben gleichzeitig mit den Augen einer Malerin voller Poesie mecklenburgische Landschaften und menschliches Miteinander. Ein gleichsam humanistisch analysierendes wie von Farben und Formen inspiriertes Schauen. Die Notate und Reden zeigen nochmals deutlich, daß sich Heidrun Hegewald neben ihrer Passion als Malerin auch als Schriftstellerin profiliert hat, was vielen, ich gestehe auch mir, lange Zeit verborgen geblieben ist. Diese Lücke schließt das Buch in beeindruckender Weise, indem es teilhaben läßt am Werden einer Künstlerin, die mit dem Trauma des Faschismus aus ihrer Kindheit in der DDR zur Künstlerin wurde und jetzt mit wachem Blick den bundesdeutschen Osten und das Leben im marktwirtschaftlich bestimmten Europa sieht und beschreibt. Ihre Texte verweisen auf die Perversion der modernen Gesellschaft und auch auf daraus resultierende Verflachung der deutschen Sprache und Alltagskultur. Und sie schreibt das konsequent, teilweise bewußt Konventionen der Rechtschreibung aufbrechend, bis hin zu interessanten Wortschöpfungen wie das von den Genießern des Choriner Musiksommers, die die Musik aus mitgebrachten Proviantkörben umessen.
Genau darin liegt für mich der eigentliche Wert dieser Texte. Es ist nicht das nähere Kennenlernen einer Künstlerin, die mit ihrem Schaffen einen wesentlichen Beitrag zur bildenden Kunst der DDR geleistet hat und auch nicht die Entdeckung der Schriftstellerin Hegewald. Es ist der allen Texten immanente, immer wieder brillant formulierte Aufruf, sich nicht in die bürgerliche Bequemlichkeit eines Vernunft, Menschlichkeit und wirkliche Kunst vergessenden, mediengesteuerten Konsumenten zu ergeben, sondern stets zu schauen, genau hinzuschauen, zu überdenken und ebenso ästhetisch zu genießen, der das Buch für jeden kulturell Interessierten bedeutsam macht.
(ad, MARGINALIEN 205, S. 94)

Di, 08.12.2009

Im Steinbruch lispeln die Schatten

Gestern stellte Xago die Jahresgabe des Berliner Bibliophilen Abends è (BBA) anläßlich eines Adventskaffees bei der Vorsitzenden der è Goethe-Gesellschaft Berlin, Frau Beate Schubert, vor. Bei dieser Gabe, die Interessierte bereits am Stand des BBA auf der LiberBerlin in Augenschein nehmen konnten, handelt es sich um ein Künstlerbuch über Armenien Im Steinbruch lispeln die Schatten.
Das von Xago geschaffene, im Frontispiz handkolerierte und mit einer individuellen Einbandzeichnung versehene Buch wurde bei Harald Weller (Kreuzberg) in einer Auflage von 15/85 Exemplaren gedruckt und von Ralf Liersch (Prenzlauer Berg) in drei verschiedenfarbigen Einbandvarianten mit Lederrücken gebunden und enthält im hinteren Deckel eingelegt einen weiteren Druck, ein Märchenbuch mit dem Titel Vom Hahn und dem König.
Es gelang dem BBA wieder einmal, seine Mitglieder mit einer bibliophilen Kostbarkeit zu beglücken.

REZENSION von Wolfgang Wicht
(Vorabveröffentlichung aus MARGINALEN 197, Auslieferung März 2010)
Neben Xago, den Maler, stellt sich Xago, der Dichter. Den Kopf voller Worte und Widerworte bringt er metaphorisch reiche, Welt kommentierende, geistvolle, poetisch verknappte, originelle Verse zu Papier ... mehr

Mo, 02.03.2009

Bibliographie der Büchergilde Gutenberg

Bibliographie 1924 bis 1933 mit allen bekannten Auflagen und Einbandvarianten

In seinem Katalog 155 stellt unser Mitglied Frank Albrecht nicht nur eine Reihe von Büchern aus dem Nachlaß des Künstlers und Schriftstellers Rolf Schott vor - die Freunde und Sammler der Büchergilde Gutenberg finden in diesem Katalog auch eine vollständige Bibliographie der Büchergilde von 1924 bis 1933.

Dieser Katalog ist als PDF (2 MB) online abzurufen (klick
è
hier). In der Online-Variante sind viele Abbildungen farbig. Gegen eine Schutzgebühr von 5.- € kann man auch einen gedruckten Katalog beziehen, hier sind die Abbildungen jedoch schwarz/weiß.
Mozartstrasse 62
69198 Schriesheim
REZENSION

Einen Antiquariatskatalog zu rezensieren, ist schon etwas ungewöhnlich, aber vielleicht macht ein Satz aus dem Internet dieses Ansinnen verständlicher: „Antiquariatskataloge enthalten mitunter wahre Schätze, das ist hinlänglich bekannt. Es gibt aber auch Kataloge …, die sind von sich aus schon ein solcher Schatz.“ Diese Worte auf Szyllas Lesezeichen beziehen sich auf den Antiquariatskatalog 155, der weit-aus mehr ist als nur ein Angebot antiquarischer Bücher: Endlich liegt uns mit ihm eine vollständige Bibliographie der Büchergilde Gutenberg bis 1933 vor, eine längst überfällige Arbeit, die unser Mitglied, der Antiquar und Verleger Frank Albrecht, geleistet hat. Wie sehr Sammler auf diese Bibliographie gewartet haben, zeigt sich daran, daß bereits wenige Stun-den nach Veröffentlichung eines Hinweises auf den Katalog auf unserer Internetseite dazu Nachfragen eintrafen.
__ Diese Bibliographie wird für manchen Sammler Anlaß sein, sich wieder einmal näher mit der verdienstvollen Büchergilde Gutenberg zu beschäftigen, die in verlegerisch und buchkünstlerisch anspruchsvollen Ausgaben, teilweise Erstausgaben, Autoren wie Jack London, B. Traven oder Martin Andersen Nexö für Leser der unteren Bevölkerungsschichten bereitstellte. Sie enthält wertvolle Hinweise auf ungenaue Angaben zu Erscheinungsjahr und Auflage einzelner Ausgaben, auch wenn mitunter ungeklärt bleiben muß, ob es sich bei bestimmten Varianten eines Buches um eine Neuauflage oder lediglich um eine neue Bindequote handelt. Besonders verdienstvoll sind zahlreiche Hinweise auf Varianten, die bislang in einschlägigen Darstellungen, wie
Britta Friedsam, Das illustrierte literarische Gebrauchsbuch bei der Büchergilde Gutenberg (2008) oder Bernadette Scholl, Die Büchergilde Gutenberg 1924-1933 (in: Buchhan-delsgeschichte 1983, Nr. 3), noch nicht katalogisiert sind.
__ Der Katalog 155 enthält nicht nur die Bibliographie, sondern neben einem Angebot lieferbarer Titel der Büchergilde auch Bücher aus dem Nachlaß des Künstlers und Schriftstellers Rolf Schott. Damit führt Frank Albrecht eine Reihe von Katalogen fort, die sich mit Einbandgestaltung des 20. Jahrhunderts, Georg Salter, der Reihe Der jüngste Tag, russischer Avant-garde und anderen interessanten Themen beschäftigen und von denen jeder für sich eine Besprechung in den MARGINALIEN wert wäre. Die Kataloge und damit auch die Bibliographie der Büchergilde Gutenberg sind nicht nur gedruckt erhältlich, sondern kostenlos
online abrufbar, die Bibliographie ist online sogar mit Farbabbildungen zu betrachten, während die Printausgabe nur in Schwarzweiß gedruckt ist.
__ Obwohl ich weiß, daß der Autor als langjähriger Sammler, Liebhaber der Büchergilde Gutenberg und Antiquar gründlich und gewissenhaft recherchiert hat, wird es trotzdem für den Sammler eine Herausforderung sein, eine nicht in diesem Katalog beschriebene Ausgabe zu finden und sie dem Bibliographen zu präsentieren. Mit dem ersten Fundstück wäre eine zweite Ausgabe der Bibliographie begonnen, die eventuell nicht nur als Bestandteil eines Antiquariatskatalogs erscheint.
Abel Doering
(Vorabdruck aus
MARGINALIEN 194, 2/2009)

ANMERKUNG (22.4.2009)
Da mein erster Katalog zur Büchergilde hier auf einiges Interesse gestoßen ist, kurz der Hinweis, daß nun der zweite Katalog erschienen ist: "Die Büchergilde im Exil sowie Neueingänge". Diesmal enthält der Katalog jedoch nicht eine vollständige Bibliographie sondern nur meine Bestände der Büchergilde für den Zeitraum 1933 bis 1949, es sind aber immerhin wieder 217 Bände, die ausführlich beschrieben und abgebildet sind.
Sie können den Katalog wieder unter
www.antiquariat.com als Pdf kostenlos herunterladen.
(Frank Albrecht)

Do, 27.11.2008

Handbuch für den Buch- und Grafiksammler

von Arnulf Liebing

Ausgehend von seiner langen Erfahrung als Sammler und Antiquar untersucht der Autor kritisch, welche Vor- und Nachteile für den Sammler aus der Wandlung des Marktes in den letzten Jahren entstanden sind. Dabei verliert er die eigentlichen Objekte, die Bücher und Grafiken, nicht aus den Augen, sondern beschreibt liebevoll viele Details. Nur hat sich eben teilweise der Blickwinkel etwas geändert. So wird beispielsweise gezeigt, wie moderne Computersatzprogramme Techniken anwenden, die Gutenberg erfand - und die scheinbar längst vergessen waren. Oder es wird einer Betrachtung unterzogen, wie durch den Internethandel ein neues Recht für Käufe entstand. Der Autor versucht, bei aller Liebe zum konservativen Sammeln, die neuen elektronischen Techniken dem Sammler näher zu bringen und aufzuzeigen, dass man sich deren Komplexität kaum entziehen kann.

è Königshausen u. Neumann
168 Seiten mit zahlreichen Abbildungen,
16 Farbtafeln und Begleit-CD.
Hardcover-Pappband m. Fadenheftung,
€ 34,80 CHF 60,90
ISBN 978-3-8260-3751-1


è Bücher-Sammler

REZENSION

Wahrscheinlich geht den meisten Bücherfreunden zuerst der Gedanke durch den Kopf: Wieder eine Anleitung zum Sammeln von Büchern und Graphik! Wer seit Jahrzehnten als Bibliophile in Antiquariaten oder Auktionshäusern, auf Trödelmärkten und Graphikmärkten unterwegs ist, wird denken, solch ein Handbuch kann eigentlich nicht viel Neues bringen. Man hat seine Erfahrungen gemacht oder machen müssen und kennt die einschlägigen Bücher, in denen alles gesagt ist.
__ Daß man sich hier im Irrtum befindet, wird einem schnell bewußt. Der Computer hat eben nicht nur traditionelle Techniken der Buchherstellung abgelöst (das Objekt der Begierde ist, wenn es heute entsteht, nicht mehr dasselbe wie früher), sondern das Internet hat in den letzten Jahren auch das Sammeln stark beeinflußt und „vielleicht trivialer gemacht“, wie der Autor bereits im Vorwort feststellt (S. 7). Diesen Aspekt aus dem Auge zu lassen, wäre für das Sammeln genauso schädlich wie die Vernachlässigung von modernen Recherchemethoden oder das Ignorieren von Rechtsfragen.
__ Der Autor Arnulf Liebing ist selbst Sammler und hat als Antiquar in langjähriger Praxis Erfahrungen mit dem Wandel des von ihm beschriebenen Metiers gemacht. Der Inhalt des Handbuches erstreckt sich von ausführlichen Hinweisen zu Typographie, Illustration, Papier und Einband über Sammelobjekte, wie Pressendrucke und Exlibris, Untersuchungen über den Antiquariatsmarkt und das Internet bis hin zu Fragen des Rechts. Neben einem Verzeichnis wichtiger Fachbegriffe im Anhang ist auch der gesamte Inhalt übersichtlich gegliedert, so daß einzelne Beiträge nachgeschlagen und separat gelesen werden können. Die Abbildungen im Handbuch sind nicht nur ansprechend und machen Lust auf das Sammeln, sie sind häufig auch notwendige Bildbeispiele für die textlichen Erläuterungen, zum Beispiel um den Unterschied einer Originalschrift in 17 Punkt zu einer Schrift aufzuzeigen, die von 10 auf 17 Punkt skaliert wurde (S. 41). 16 Farbtafeln auf Kunstdruckpapier im Anhang geben nochmals einen schönen Einblick in die Welt des guten Drucks.
__ Das Buch beschäftigt sich nach kurzen Ausflügen in Geschichte des Buchdrucks und Grundlagenwissen zunehmend mit aktuellen Fragen. Insbesondere in Betrachtungen zu zeitgenössischen Entwicklungen wie dem Internethandel und den daraus erwachsenden rechtlichen Problemen konnte der Autor aus langen Diskussionen, die vornehmlich unter Antiquaren geführt wurden, schöpfen – ich nahm daran teil und fand im Handbuch treffende Zusammenfassungen. Gerade diese Abschnitte machen auch den Wert des Buches für den gestandenen Sammler aus, hier finden sich wichtige Fakten, die für zeitgemäßes Sammeln nicht mehr ignoriert werden können, denn es werden die wesentlichen Methoden, die die modernen Medien dem Sammler bieten, vorgestellt und mit ihren Vor- und Nachteilen sowie eventuellen juristischen Fallstricken erläutert. Völlig vernachlässigt dagegen werden leider im Buch die Vereinigungen von Bücherfreunden, der Gedankenaustausch und die bibliophilen Zusammenkünfte, die für viele Sammler ihre Passion erst abrunden. Offensichtlich entspricht dieser Aspekt des Sammelns nicht der Intention des Autors. Ich hätte mir im Handbuch einen deutlichen Hinweis oder eine Übersicht über diese Vereinigungen gewünscht. Zumindest hätte sich eine Linkliste angeboten – gerade, um einem „jungen Sammler“ den Weg zu Gleichgesinnten aufzuzeigen. So wird der bibliophil Interessierte nicht durch das Handbuch, sondern erst durch die im Buch angeregten Recherchemöglichkeiten im World Wide Web auf diese Gesellschaften aufmerksam werden.
__ Das Buch hat eine seinem Inhalt entsprechende solide Aufmachung: einen stabilen, glatten Pappeinband und (es gibt sie noch!) Fadenheftung. Beigelegt ist dem Buch eine CD, die neben nützlichen Links auch die Demonstrationsversion der von Liebig entwickelten Sammlersoftware PALplus enthält. Viele Bücherfreunde kennen und nutzen diese Software zum Katalogisieren der eigenen Bibliothek. Sie wir auch im Textteil vorgestellt. Bedauerlicherweise ist die CD innen auf dem hinteren Deckel eingeklebt, so daß das Vorsatzpapier bei der Entnahme leicht beschädigt werden kann. Diese CD erhebt leider nicht den Anspruch auf Vollständigkeit und eine Aufzählung von gerade mal drei (!) Bibliophilengesellschaften und sage und schreibe acht (!) Antiquariaten in Deutschland und in der Schweiz ist nicht nur unvollständig, sondern letztlich überflüssig. Der Autor verweist darauf, daß die Links „nach einer ganz persönlichen, individuellen Auswahl“ aufgenommen wurden. Sehr zu begrüßen ist dagegen, daß sich auf der CD alle wichtigen Recherchemöglichkeiten, wie Links zu Bibliographien und Katalogen wiederfinden, sowie ein nützliches „ergänzbares Wörterbuch“ mit gebräuchlichen Abkürzungen, welches man beim Suchen auf dem Rechner im Hintergrund laufen lassen kann.

Abel Doering
(Vorabdruck aus MARGINALIEN 193 / 1, 2009)