Eine Paraphrase auf William Shakespeares 87. Sonett eröffnet Wilhelm Bartschs opulenten Gedichtband Hohe See und niemands Land. Aus Shakespeares ironischem Abrechnungsgedicht an einen Freund wird bei Bartsch ein Abrechnungsgedicht an „Frau Welt“, die doppelgesichtige Begierde, die den Menschen blind macht: „Soll ich mit dir im Sturm wie Lear noch tanzen, / Bis du mein Werk und mich zerbrichst zuletzt? / Schon hast Du mir den Virus der Bilanzen / Als Krone der Erschöpfung aufgesetzt. / Hoch fuhr ich aus dem Traumreich der Aufmotzer / Als König zwar, doch König der Schmarotzer.“ (Aus: Mein Eigentum.)
Ehrlicher kann ein Gedichtband nicht ansetzen. Und dieser Ouvertüre folgen noch weitere Texte mit geradezu philosophischen Selbsteinsichten und Selbstermunterungen. „In Form zu bleiben“, erprobt sich Wilhelm Bartsch an Skakespeares Sonettform und vertreibt „mit solchem Sturm die Zeitgeisttricks“. Das Ziel ist klar: „Zur hohen See, zu niemands Reede hin, / Da liegen Shakespeare – Dante – Hölderlin –“ (Aus: Shakespeares Form.) Aber der Band ist mehr, er ist ein Fahrten- und Welten-Buch, in dem sich das lyrische Ich auf gefährliche Reisen zu Wasser und zu Land und durch Raum und Zeit begibt ... Der Wanderer kommt nach Auschwitz-Birkenau und nach Palmyra. Der Seefahrer bis ans Nordmeer. Mit St. Brendan „the Navigator“ nach „Anderswelt“ segelnd, „pinselt er seefahrende Gedanken (ins) Logbuchpalimpsest.“
In den angefügten Anmerkungen zu den Gedichten schreibt Bartsch, dass es dieser Anmerkungen nicht bedürfe. Das stimmt. Bartschs Gedichte sind ein Fest der Sprache und der Sinne, das keiner weiteren Erklärung bedarf, um den Leser in diesem Sprachstrom mitzureißen. Vor manchen Gedichten steht man wie vor einem Naturereignis, einem Nordlicht, einem Blick ins Alpental. Dennoch lohnt es sich, den Anmerkungen nachzugehen. Man erfährt nicht nur, dass der in Irland verehrte Heilige Brendan möglicherweise 900 Jahre vor Kolumbus in Amerika war, oder dass Arno Schmidt, das Urbild für seine Franziska (Hauptfigur in Zettels Traum) dem Unterwäsche-Katalog Mona entnommen hat. In Summa staunt man, welche Welt- und Querbezüge in ein Gedicht hineinreichen können. Diesen Hinweisen des lyrischen Enzyklopädisten Bartsch nachzugehen, macht Spaß, führt zu höherer Bildung und ist allemal besser, als den Zeitgeisttricks zu folgen.
Ein anderer Heiliger von Wilhelm Bartsch ist Wolfgang Hilbig (1941–2007), sein Freund und Anreger: „Zwar zeitenkrank, doch sicher reist Sankt Hilbig / Auf seinem Rettungsfloß ,Misere‘. / Sein Unstern führt ihn sicher übers Meer / Von Katastrophe hin zu Katastrophe … // Er folgt so einzig seinem reziproken / Gesetz des Widerstands: je hässlicher / Die Fahrt wird, desto schöner, wird erniedrigt / Sankt Hilbig, kriegt er Größe, und je mehr / Die Nacht der Irrfahrt steigt, wächst auch die Klarheit, / Nur aussichtslose Fahrt führt hin zur Lösung …“ (Aus: Rettungsfloß „Misere“.)
Ein anderer Bezugspunkt ist Gottfried Benn (1886–1956), dessen Intentionen und Sprachgefühl Bartsch in mehreren Gedichten nachgeht. Benns und Bartschs Melancholie sind sich verwandt. Da ist ein Wissen um Schönheit, eine Trauer um ein Menschsein, welches das Wunderbare und Schöne zerstört: „Wir selbst im Honiglicht sind Trauermücken / mit dieser ewig großen zähen Geste, / in diesem Ballkleid nur aus Todesschlieren / und bald schon tief im schwarzen Flöz der Zeit.“ (Aus: Trauermücken.) – „Kann sein, wir wissen kaum was von der Welt, / Nur wie wir, Wüsten bergend, uns ermorden / Und nur, was für uns zählt, auch zählen: Geld. / Wir sind, die schießen, prellen und umhauen, / So prellt und schleudert uns nun selbst das Grauen.“ (Aus: Vulpus volatus.)
Den fünf Abschnitten des Bandes sind jeweils Motti vorangestellt, die den Grundton der Gedichte vorgeben. Vor dem zweiten Abschnitt steht ein Gedanke von Novalis (1772–1801): „Die Natur ist Feindin ewiger Besitzungen. Sie zerstört nach festen Gesetzen alle Formen des Eigentums ...“ Der letzte Text des Bandes ist einer Frau gewidmet, ihr verdankt sich – neben Shakespeare – auch das Buch. Sie ist das Du in vielen Gedichte, oft Gefährtin auf See und zu Land. An sie – die alte neue Liebe – richtet Wilhelm Bartsch manch zarte Zeile und Sonett in diesem Buch:
Du hörtest, dass ich’s war, an meinem Schritt
Noch hinter dir und nach so vielen Jahren.
Auch Du gingst ja für immer mit mir mit,
Ich wusste es auf einmal mit den Haaren.
Waren wir denn so unlösbar verknüpft,
Als hätte nicht die Zeit das Band zerrissen?
Ein Kind der Zeit war ich, das springt und hüpft,
Es fiel mir sogar leicht, dich zu vermissen,
Ich nahm dich tief in mir wohl nicht mehr wahr.
Glück, blinder Passagier dort im Versteck,
Auf hoher See erst wird es offenbar:
Dein Steuerrad, mein Schritt an Deck.
Doch wer zur See fährt, hofft auch, dass er landet,
Dass Liebe Liebe bleibt, noch wenn sie strandet.
(Du hörtest, dass ich’s war.)
Wilhelm Bartschs Sonette lesen sich, als hätte er diese lyrische Form soeben erschaffen, kein Staub klebt an den Versen, sie lesen sich geschmeidig und rhythmisch. Diese Gedichte regen den Geist an wie ein Gang durch die Natur. (Wilhelm Bartsch: Hohe See und niemands Land, Gedichte, Göttingen: Wallstein Verlag 2024, 140 Seiten, geb., ISBN 978-3-83535-393-0, 22 Euro.)
(Axel Helbig)