Für Novalis (Georg Philipp Friedrich von Hardenberg), einen der wichtigsten Romantiker und Erfinder der „Blauen Blume“ (1772–1801), könnte das fast [nach dem ikonischen Alphaville-Song/ Album von 1984] zum Klischee gewordene „Forever Young“ gelten. Er ist im Gedächtnis geblieben als der junge Mann, als den ihn das berühmte Porträt zeigt. Dabei klingen seine Texte, denken wir nur an die Hymnen an die Nacht oder den Roman Heinrich von Ofterdingen, immer gewichtig, geprägt wie von Altersweisheit. Dennoch benannte sich in den 1970er Jahren eine Rockband nach ihm, setzte seine Verse in Musik, zum Beispiel jenes berühmte Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren … Immer wieder erweist sich der trotz seines fragmentarischen, seltsam rauen und zerspaltenen Werkes Frühvollendete als Stichwortgeber und Anreger für die Gegenwart.
Das geschah auch 2022. Es galt, an den 250. Geburtstag des Dichters zu erinnern. Darum baten das Literaturhaus Halle und dessen Leiter, Alexander Suckel, „befreundete Kolleginnen und Kollegen, Gäste des LHH in den letzten Jahren … Texte, zu verfassen.“ Ziel sei eine Auslotung des „Kosmos“ Novalis, indem seine Poetik von unterschiedlichen Stimmen sozusagen ins Heute transponiert würde. Der thematische Ansatz „Wovon man spricht, das hat man nicht“ zeigt die ironische Seite Novalis’, denn in den Dialogen [postum 1802], woher das Zitat stammt, sprechen die Gesprächspartner vom Wein und vom Verstand. Das Vorwort führt den Leser instruktiv ins Buch ein, erklärt, in Anlehnung an Bert Brechts eigentümliches Gedicht Die Teppichweber von Kujan-Bulak ehren Lenin [1929, zuletzt in den Ausgaben der Kalendergeschichten ab 1949], dass die Autoren sich ebenfalls nützten, indem sie Novalis ehren, wie einst die Teppichweber Lenin.
Die Autoren, man kann sich über sie am Ende des Buches informieren, sind in der Reihenfolge ihres Auftritts: Karl-Heinz Ott, Clemens Meyer, Jens Jessen, Torsten Schulz, Martin Becker und Greta Taubert, Eike Goreczka und Katrin Schumacher. Damit sind verschiedene Genres und Herangehensweisen, Ausdeutungen, Bezüge garantiert, die ein abwechslungsreiches Lesevergnügen bescheren. Vergnüglich auch der wie in Schreibschrift gehaltene Novalis-Bezug, dem Erzählung, Essay, Reminiszenz usw. folgen. Nur am Buchende wird das Prinzip einmal durchbrochen, indem (aus dem Kunstprojekt Gast – Portrait – Antwort des Literaturhauses) eine Radierung von Sven Großkreutz mit einem kurzen Text von Katrin Schumacher „beantwortet“ wird – es ist dies eine der schärfsten, prägnantesten „Begegnungen“ mit Novalis, deren Zeuge man im Buch werden kann.
Man sollte dieses Buch nicht lesen, wie man sonst liest. Ich empfehle, das Inhaltsverzeichnis aufzuschlagen und sich von den Titeln der Beiträge gefangen nehmen und in eine romantisierte und poetisierte Welt führen zu lassen: Zu Krautrock und Hydrogeologie, um in Erinnerungen an die Band Novalis zu gleiten. Durch eine Verklärte Nacht zu fahren, in einer seltsamen Kutsche, wo aus einem Tintenklecks doch noch die Blaue Blume wird. Dann eine Liebeserklärung an Novalis zu lesen, die nicht dem hübschen jungen Mann gilt, sondern einem Dichter, dem wir eine „Entlarvung Goethes“ verdanken. Man kann nachempfinden, wie sich einem heutigen Schriftsteller Zugänge zu Novalis erschlossen oder von einer sehr gut zu lesenden philosophischen und literarischen Ausdeutung Novalis’ bereichert werden, obwohl deren Titel vom Nichtssuchen, sattem Herzen und leerer Welt spricht. Oder ganz in der Gegenwart ankommen beim Heimischwerden und doch sehnsuchtsvoll Fremdbleiben einer Familie, die vor dem Krieg in der Ukraine geflohen ist, deren Begleiter man als Leser wird.
Und: Die Notwendigkeit der „Poetisierung“ vorgeführt zu bekommen und begreifen zu lernen; Worte zu lesen, die man sich angesichts eines desolaten Welt- und Umweltzustands ins Notizbuch übertragen sollte: „Mit der Poesie können wir in der Trauer um das Aussterben die Freude an der Lebendigkeit entdecken. […] Mit dem poetischen Blick können wir diese große Liebesbeziehung wahrnehmen, sie ästhetisieren und zelebrieren – und uns damit für die bevorstehende Traurigkeits-epidemie rüsten.“ Das hätte wohl auch Novalis unterschrieben und vielleicht sein Siegel darunter gesetzt. Es lohnt sich der Besuch in der Novalis-Welt und der seiner Nachfolger, die seine Gedanken aufnehmen und zeigen, dass sie alles andere als „längst vergangen“ sind, sondern wie gemacht für uns und die Gegenwart. Die Blaue Blume der Romantik wird genauso wenig alt wie ihr Erfinder.
Das Buch ist von einer Schönheit der Buchgestaltung, wie sie leider selten geworden ist heutzutage. Man bekommt die Blaue Blume zu fühlen, wenn man es in die Hand nimmt. Denn die Buchdeckel sind davon übersät. Doch damit nicht genug: Der hallesche Grafiker und Maler Sven Großkreutz schuf eine Radierung von Novalis, die man auf der Seite 108 findet. Und es liegt dem Buch ein weiteres Novalis-Motiv des Künstlers als Originalabzug bei, als Jahresgabe der Pirckheimer-Gesellschaft. Diese liebt, so ihr Leitgedanke, Bücher und Graphiken ... alles, was schön ist. Mit diesem Buch hat sie sich selbst, den Romantikbegeisterten, jedem Bücherfreund ein Geschenk gemacht. (Wovon man spricht, das hat man nicht. Neue Texte zu Novalis, hrsg. vom Literaturhaus Halle, für die Mitglieder der Pirckheimer-Gesellschaft mit einer Radierung von Sven Großkreutz. Halle: Mitteldeutscher Verlag 2023, Hardcovereinband, 114 S., ISBN 978-3-96311-752-7, 16 Euro.)
(Albrecht Franke)