Straßburg ist momentan Welthauptstadt des Buchs: Auserkoren von der UNESCO, mit vielen Ausstellungen und Aktionen der Stadt bis Mitte nächsten Jahres mit Leben gefüllt. Auch mit einem belesenen Gruß aus Berlin: Marie-Pierre Bonniol, die seit Jahren in der deutschen Hauptstadt lebende französische Kuratorin, Künstlerin, Sammlerin (und auch Pirckheimerin), präsentiert in der Metropole des Elsass erstmals ihre Streetfinds. Mit während der Corona-Zeit auf den Straßen in den Berliner Bezirken Neukölln und Treptow gefundenen Büchern vermisst sie die Vorlieben und Nutzungsmuster der Bewohner dieser Gegend. Visuell und thematisch stellt sie ihre Funde zusammen, entdeckt Lesespuren und Querverbindungen, offenbart Signale aus längst vergangenen Zeiten. Steuerratgeber von vor zwanzig Jahren, politische Sachbücher, polnische Liebesromane, Gesundheits-, Werbebroschüren, Kunsttheorie, Informatikkompendien, Lehrbücher, Reiseführer, tschechische Krimis, linksradikale Pamphlete, fremdsprachige Mathebücher, Technikhandbücher, Klassiker von Vercors und Thornton Wilder, Leinenbeutel von Buchhandlungen, Notenblätter … Es entsteht eine Collage aus sensorischer Lust und assoziativen Themenclustern. Und – es ist eine wahre Freude, diesem Blick auf 150 Fundstücke zu folgen. Ein Buch wurde von jemanden selbst durchillustriert, eines mit Collagen versehen, andere zeugen von gelangweilten Unterrichtsstunden, von leidenschaftlicher Nutzung in Hobbykellern oder liebevollem Vorlesen, eines stammt von einer russischen Avantgarde-Künstlerin. Manchmal muss man eben erst ins Ausland fahren, um den wilden Mix der eigenen Stadt wiederzuentdecken. Neben tollen Taschenbuchcovern und abstrakten Lösungen für Technikhandbücher habe ich mich auch über vier kunsttheoretische Bände aus den 1970ern und 1980ern gefreut (Ästhetik der Kunst, Ästhetik heute, Literatur und Persönlichkeit und Kultur Kunst Lebensweise), unter anderem gestaltet von Hans-Joachim Walch, nicht nur ein guter Buchgestalter und Holzstecher, sondern auch ein ehemaliger Pirckheimer. Wie sich Kreise schließen ... Die tolle Schau ist noch bis zum 08.09. im Centre européen d’actions artistiques contemporaines (CEAAC, 7 Rue de l’Abreuvoir, in F-67000 Strasbourg) zu sehen. Wer gerade im Osten Frankreichs oder in Südwestdeutschland unterwegs ist, der Sprung nach Straßburg lohnt sich, auch wegen anderer toller bibliophiler Dinge. Mehr dazu in der Dezemberausgabe der Marginalien.
Marie-Pierre Bonniol (Berlin):
Streetfinds. Gefundene Bücher
aus Neukölln und Treptow.
Ausstellung im CEAAC, 7 Rue de
l’Abreuvoir, F-67000 Strasbourg,
vom 15.06. bis 08.09.2024.
(Till Schröder)