Der große Saal im Oldenburger Schloss bildete die prunkvolle räumliche Klammer des Pirckheimer-Treffens 2022 vom 23. bis 25. September. Dort begrüßte Rainer Stamm als Hausherr des im Schloss angesiedelten Landesmuseums für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg die Pirckheimer am Freitag zu ihrem 49. Jahrestreffen. Er versprach den rund 60 aus ganz Deutschland angereisten Buch- und Grafikliebhabern eine „Entdeckungsreise mit Blick hinter die Kulissen“.
Die ersten beiden Blicke fielen zum einen auf die Buchbestände aus dem Nachlass des Museumsgründers, Publizisten und Sammlers Walter Müller-Wulckow und des Gründers der Vereinigung für junge Kunst, Ernst Beyersdorff, sowie die verschollene Leihbücherei dieser Avantgarde-Vereinigung. Zum anderen nahmen die Pirckheimer Arbeiten auf Papier des Malers Johann Heinrich Wilhelm Tischbein (1751–1829) ins Visier. Tischbein war von 1808 bis 1829 als Hofmaler des Herzogs Peter Friedrich Ludwig in Oldenburg und Eutin tätig, weshalb sich heute zahlreiche seiner Werke im Landesmuseum befinden.
Rainer Stamm entführte die Pirckheimer in das erste Drittel des 20. Jahrhunderts und präsentierte im Prinzenpalais die Sammlungen des Gründungsdirektors des Landesmuseums Walter Müller-Wulckow und Ernst Beyersdorff, Gründer der 1922 ins Leben gerufenen Vereinigung für junge Kunst in Oldenburg. Stamm stellte nicht nur Bücher aus den Sammlungen vor, auch die der ab 1933 verstreuten Mitgliederbibliothek des Vereins, sondern schilderte profund und anschaulich die historischen Hintergründe ihrer Entstehung, ging auf die Persönlichkeiten der beiden Sammler ein. Bei der Beyersdorffschen Sammlung sei hier besonders auf sein Gästebuch hingewiesen, mit Einträgen von unter anderem Karl-Schmidt Rottluff, Mary Wigman, Bruno Taut, Arnold Schönberg oder Bertolt Brecht. Gottfried Benns Eintrag war der letzte vor der selbstgewählten Auflösung der Vereinigung angesichts der drohenden Gleichschaltung: Er las am 30. Januar 1933 genau in dem Raum im Prinzenpalais, in dem sich die Pirckheimer gerade befanden, während damals, 1933, die Nationalsozialisten vor den Fenstern die sogenannte Machtergreifung mit einem Fackelzug zelebrierten. Die Einträge beginnen erst 1946 wieder.
Bei der Sammlung Müller-Wulckow beeindruckten viele Pirckheimer vor allem die „weltweit gesuchten Ephemera zur klassischen Moderne“, wie es Stamm charakterisierte. Beispiele sind Kataloge der Kestner-Gesellschaft, darunter der „sehr seltene Katalog“ Schmidt-Rottluff – Negerkunst von 1920, Einladungen zu Ausstellungen von Otto Dix oder Lyonel Feininger, und der Katalog zur Kunstausstellung Erster deutscher Herbstsalon, die 1913 von Herwarth Walden (Galerie Sturm) organisiert worden war, sowie Einladungskarten der Galerie Neue Kunst Fides in Dresden.
Da die eigentliche Bearbeiterin der Tischbein-Sammlung erkrankt war, sprangen Marcus Kenzler und Tonia Carlotta Eskuche ein. Entsprechend verschoben sich die inhaltlichen Schwerpunkte weg von der wissenschaftlichen Tischbein-Forschung. Kenzler gab eine Einführung in seine Arbeit als Provenienzforscher. Bis heute habe er zahlreiche Sammlungsstücke als dringende Verdachtsfälle oder eindeutiges „NS-Raubgut“ identifizieren können. Die ersten Restitutionen erfolgten 2014. Unter anderem sei für ihn erwiesen, dass einige Stücke aus den Sammlungen des Museums für die sogenannte „Führersammlung“ in Linz bestimmt gewesen seien.
Dennoch rückten die Arbeiten Tischbeins auch in den Fokus: Aus dem Bestand hatten die Experten zwei Arbeiten ausgewählt: Das Aquarell Die Stärke des Mannes von 1790, das das Museum 1928 angekauft hatte, und die Gouache über Feder- und Kreidezeichnung Schornsteinfeger über Hamburger Dächern (1801/1806). Zusätzlich lag auf dem Tisch ein gebundenes Konvolut von handschriftlichen Blättern Tischbeins, das mit gebührendem Abstand von den Pirckheimern betrachtet werden durfte. Das alles erlebten die Pirckheimer im Idyllenzimmer und damit umgeben von Tischbeins Idyllenzyklus, der aus mehr als 40 Gemälden besteht und vollständig erhalten ist. Und das sogar in der von Tischbein veranlassten Original-Hängung, wie Kenzler betonte.
Corinna Roeder stellte am Samstag die Künstlerbuch-Sammlung von Onno Feenders mit über 1.000 kostbaren Büchern vor. Die Leiterin der Landesbibliothek Oldenburg hatte 40 von ihnen bereitgelegt. Feenders habe von Anfang an eine wichtige Regel für Sammler befolgt, wie sie der Bibliophile Leopold Hirschberg formulierte: „Zersplittere Dich nicht!“ Roeder: „Um Vollständigkeit in einem äußerlichen Sinn ist es Onno Feenders nie gegangen, wohl aber darum, signifikante und qualitätsvolle Beispiele für die wichtigsten Vertreter und Entwicklungen des Pressendrucks zu sammeln.“ Der Platz lässt an dieser Stelle lässt nur eine kleine Aufzählung zu: Kelmscott-Press: The Romance of Sir Degrevant (1896), Doves-Press: English Bible (fünf Bände, 1902–1905), Ernst-Ludwig-Presse: Stundenbücher (zehn Bände, 1920–1922), Cranach-Presse: Shakespeares Hamlet (1929), Raamin-Presse: Kafkas Betrachtung (1990), Otto Rohse Presse: Gryphius’ Sonette (1970), Burgart-Presse: Christa Wolfs Im Stein (1998).
Er hoffe sehr, dass die Landesbibliothek Oldenburg diese Sammlung fortsetzen kann, sagte Christian Hesse, der an die Worte von Bibliothekschefin Roeder anknüpfte. Der Inhaber des Auktionshauses Christian Hesse Auktionen in Hamburg sprach über den Umgang mit Büchersammlungen, um die sich deren Gründer nicht mehr kümmern kann oder will. Immer wieder werde die Frage „Was passiert mal mit meiner Sammlung?“ an ihn herangetragen. Hesse: „Die Kinder sind oft ratlos, wenn sie eine Sammlung erben.“ Für ihn ist die komplette Übernahme einer Sammlung durch eine Institution eine Option, eine andere, die Objekte durch eine Auktion wieder in den Sammlerkreislauf zu bringen. So beispielsweise geschehen mit der Sammlung der Barbara Achilles-Stiftung, die er 2021 versteigert hat. Damit hört die Sammlung in physischem Sinne zwar auf zu existieren, jedoch kann sie in Form eines (fundierten und gut gestalteten) Katalogs fortbestehen. Ein Beispiel für diese Variante ist der Katalog Wege zum idealen Buch – Die Sammlung der Barbara Achilles-Stiftung, von dem Hesse für jeden Teilnehmer des Jahrestreffens ein Exemplar stiftete.
Mit dem Besuch der Kabinettausstellung Bücherschätze der venezianischen Renaissance aus der Offizin des Aldus Manutius der Landesbibliothek kehrten die Pirckheimer quasi an ihren Ursprung, zu ihrem Namensgeber, zurück. Denn als jüngst entdecktes Kleinod der Sammlung entpuppte sich ein Band aus der Bibliothek von Willibald Pirckheimer, der von seinem Freund Albrecht Dürer von Hand illustriert wurde. Dabei handelt es sich um das 1502 in Venedig von Manutius gedruckte Onomastikón des Polydeukes. Auf dem ersten Blatt finden sich in Deckfarbenmalerei auf Delfinen balancierende Putten, die das Wappen Willibald Pirckheimers darstellen. Es sei gelungen, den Band zweifelsfrei als eines von 14 Büchern zu identifizieren, die 1634 von den Erben Pirckheimers an einen holländischen Sammler verkauft wurden, erzählte Matthias Bley, Leiter Historische Bestände und landesbibliothekarische Aufgaben. An dieser Entdeckung ist die Pirckheimer-Gesellschaft nicht ganz unschuldig. Als sie ihren Besuch in Oldenburg plante, so Pirckheimer-Vorsitzender Ralph Aepler, seien die Mitarbeiter der Bibliothek im Rahmen der Vorbereitungen erst auf diesen Fund gestoßen, da man ja speziell etwas für die Pirckheimer-Gesellschaft zeigen wollte und sich der Pirckheimer-Bände bewusst war.
Mit dem Besuch der Ausstellung Wie ist doch alles weit ins Bild gerückt der Künstler Anja Harms (Buchkünstlerin) und Eberhard Müller-Fries (Bildhauer) im Erdgeschoss der Bibliothek verließen die Pirckheimer das Mittelalter und die Aldinen und wandten sich der Gegenwartskunst zu, Künstlerbüchern, raumgreifenden, lesbaren Buchskulpturen. Für Harms und Müller-Fries ist der Ausgangspunkt ihres kreativen Schaffens immer die Literatur. Texte von Schriftstellern wie Paul Celan, Rainer Maria Rilke, Friedrich Hölderlin, Ingeborg Bachmann, Johannes Bobrowski, Hugo Ball, Hans Arp oder Christian Morgenstern zeigen die Bandbreite, in der sich die Künstler bewegen. Fast zwingend fügten die Künstler mit ihrer Idee, die jeweiligen Texte durch die Kammerschauspielerin Elfi Hoppe während des Rundganges vortragen zu lassen, dem Gesamtkunstwerk neben der visuellen eine akustische Dimension hinzu.
Die Begegnung mit Harms und Müller-Fries und der Besuch ihrer Ausstellung besaß für die Pirckheimer noch den besonderen Charme, die Künstler kennenzulernen, die die Grafik des Jahrestreffens gestaltet haben: Farbradierung und Linolschnitt Denn nirgend bleibt er. Friedrich Hölderlins Fragment 38, gedruckt auf Hahnemühle-Kupferdruckbütten in einem Umschlag aus bedrucktem Transparentpapier, hergestellt im Handsatz, Buchdruck und Collage aus rotem Himalayapapier im Format 27 mal 39 Zentimeter.
Den Tag beschlossen am Abend der Schriftsteller Klaus Modick und Museumsdirektor Rainer Stamm. Beide sprachen über Bücher, deren Entstehung und deren Zukunft. Klaus Modick las zudem aus seinen Büchern. Anschließend ging es zum gemeinsamen Abendessen in den Ratskeller.
Die Mitgliederversammlung am Sonntag im großen Saal des Oldenburger Schlosses beendete das Jahrestreffen 2022. Damit schloss sich auch der Kreis, der sich mit der Begrüßung durch den Pirckheimer-Vorsitzenden Ralph Aepler und Museumsdirektor Rainer Stamm fast 48 Stunden zuvor an dieser Stelle geöffnet hatte. Oldenburg hatte viel zu bieten.
(Ralf Wege, der vollständige Bericht erscheint in den Marginalien 247)