„Gerade das Nicht-Mehr, eben das Noch-Nicht.“ Wer sich auf diesen Einstieg in den neuen Gedichtband von André Schinkel einlässt, wird ihm alsbald verfallen. Möglicherweise nicht gleich beim ersten Lesen. Aber beim Wieder-und-wieder-Lesen jedes Mal ein bisschen mehr. Es ist ein Einstieg wie von den Sternen her. Was geschieht (uns) wann, wo stehen wir im Labyrinth – oder schon mitten in Schinkels erstem Kapitel auf dem versunkenen Kontinent, auf dem Apfel und Szepter regieren – und das „Sriii“ der Mauersegler. Wir spiegeln uns im All wie das All in uns.
Solch ein Einstieg ... – Schinkels unglaubliche 140 Seiten unfassendes Buch ist in vier Kapitel gegliedert. In jedem von ihnen finden sich Texte von zarter Schönheit und tiefer Berührung, die sich abwechseln mit durchaus auch in poetisches Neuland reichenden Arbeiten. Länder werden durchschritten (und durchlitten), Landschaften aus ihrem Schlaf erweckt. Die „kupfernen Herzen des Mansfelds“ kommen ins Wort. In Saaleck II heißt es beispielsweise: „Über den Bändern der singende Greif: / Das sind die Stimmen der Landschaft, wenn es Nacht wird / An den summenden Kesselrändern des Paradieses.“ Eindrucksvoll, wie sich der Hallenser Dichter in vielen Texten seiner Wahlheimat annähert. Der aus dem einstigen Chemiesmog wieder zu neuem Leben erwachten Stadt werden in diesem Buch zarte Verse gewidmet.
Dabei ist der Dichter offensichtlich selbst verstrickt in wunderbare Begegnungen der Liebe. „Unsere erschöpften Glieder am Abend: / Zentromere im Licht eines anderen Planeten (...) Draußen torkelt die Welt (...) Darüber die unglaubliche Ruhe, das / Zelt und die Schönheit deines Schlafs. Ich / Liege in deinem Duft und bewege mich nicht.“ Das Staunen kommt einen an beim Lesen solcher Verse. Es ist, als böte Schinkel alles auf, um die Schönheit von Augenblicken zu zeigen: was alles möglich ist im Labyrinth unter dem Mond ... Dabei kommen immer wieder auch thüringische Landschaften durchs Wort ins Bild, wie Zeitgeschichte, die bis heute den Atem stocken lässt, etwa in Ein Ginkgo für Clara zur Geschichte der Villa Rosenthal in Jena. Und auf geheimnisvolle Weise reicht diese Geschichte bis in den nächsten Text Am Hang hinein, der endet: „Von den Bergen schlagen die Nachtvorhänge herein.“ Manche Texte bergen so viel Intimes, dass der Rezensent sie gar nicht zu erwähnen wagt. Es bleibt der Entdeckungstour des Lesers und der Leserin vorbehalten, sie zu entdecken und zu entziffern. Versprochen: Sie werden auf ihre Kosten kommen.
Formal wendet sich André Schinkel in diesem Buch zumeist der Langzeile zu, was die Poesie seiner Wortwellen zu verstärken scheint. Der Anstrengung, sich dem Wellengang hinzugeben, sollte sich der Leser nicht versagen. Daneben tauchen Verse mit so sorgsam gesetzten Reimen auf, dass sie erst beim wiederholten Lesen so recht zur Wirkung kommen. Formen, vielfältig wie das Leben – auch das zeichnet diesen Lyrikband aus, der dennoch unverkennbar immer den Schinkel’schen Duktus beibehält, das Eindringen in die Tiefe des Erlebten durch Tiefe und Schönheit der Sprache. Vielleicht ist dieser Band der naturverbundenste des Dichters in der von ihm vorgesehenen lyrischen Tetralogie (auch wenn Band vier des Werkzyklus noch aussteht). Sicher enthält er einige der innigsten Liebesgedichte, die in jüngster Zeit in Mitteldeutschland zum Druck kamen. Durch dieses Buch sollte man sich Seite für Seite tasten, staunend, wispernd in die Stille der Worte und lauschend, was davon nachklingt, wo immer man ist.
André Schinkel: Mondlabyrinth. Gedichte. Mit einer Radierung von Susanne Theumer als Cover. Halle: Mitteldeutscher Verlag 2024. 140 Seiten, br., ISBN 978-3-96311-686-5, 20 Euro. Zum Buch erschien eine Serie von zehn unikalen Tuschen Susanne Theumers, die beim Autor erhältlich sind.
(Holger Uske)