1990-2000

Grafik von Hans Ticha für das Jahrestreffen in Mainz 1995.
Der Exlibris-Almanach der Pirckheimer von 1990 mit einem Exlibris von Rolf Xago Schröder auf dem Einband.
 
Euphorie und Aderlass: Die Menschen können die Welt erkunden, nicht mehr nur über Bücher. Die neue Freiheit nach dem Ende der DDR führt zu vielen neuen Verbindungen weltweit – und zu einer Neuorientierung. Mitgliederschwund und neues Vereinsrecht bringen turbulente Jahre aber auch eine solide Sammlergemeinschaft.

1990

Hartmut Pätzke trägt in den Marginalien (1990, H. 118) den Unmut vieler Sammler über die Machenschaften des Staatlichen Kunsthandels der DDR vor und prangert die Quasienteignungen von Kunstsammlern durch die Kunst & Antiquitäten GmbH in Mühlenbeck unter Oberhoheit von Alexander Schalck-Golodkowski an. 
Am 15. Februar finden sich zahlreiche Pirckheimer-Freunde zu einer Außerordentlichen Mitgliederversammlung in Berlin zusammen, um über die Zukunft der Gesellschaft zu beraten. Neben vielen Klagen über die gesellschaftlichen Kalamitäten kommt es auch zu scharfen Angriffen gegen den Kulturbund und den Vorstand der Gesellschaft. Die Versammlung beschließt die Trennung vom Kulturbund; die Pirckheimer-Gesellschaft bleibt aber korporatives Mitglied des reformierten Kulturbundes. Die Zusammensetzung des Vorstands wird schließlich nicht geändert. 
Am 30. und 31. März tagt die Maximilian-Gesellschaft in Berlin. Eine gemeinsame Veranstaltung mit der Pirckheimer-Gesellschaft, schon vor der Wende geplant, findet in der Deutschen Staatsbibliothek Unter den Linden statt: Günter Grass liest aus seinem Werk Zunge zeigen und stellt sich anschließend der Diskussion inmitten einer Verkaufsausstellung seiner Originalgraphik, zu der Hans Marquardt eine Einleitung gibt. Horst Kunze moderiert ein Gespräch mit Klaus Ensikat (Sächsisches Tageblatt, 16. April 1990). Die Maximilianer empfangen die Pirckheimer auch zu ihrem Festessen.
Am 18. Juni stellt Dieter Lemhoefer, Vorsitzender des Berliner Bibliophilen Abends (BBA), seine Vereinigung im Rahmen eines Berliner Pirckheimer-Abends vor. Er wie eine Reihe anderer BBA-Mitglieder treten der Pirckheimer-Gesellschaft bei, wie umgekehrt Pirckheimer-Freunde bald zu den aktiven Mitgliedern des BBA gehören (Marginalien, 1991, H. 122). Die Leipziger Pirckheimer-Gruppe veröffentlicht den ersten von Gert Wunderlich gestalteten Leipziger Druck: Rote Wut und schwarze Galle. Karl-Georg Hirsch hat darin alte und neue Texte zur Lage der Nation mit originalen Holzstichen illustriert. Die Pressendruck-Reihe, die Herbert Kästner herausgibt, wird vom wieder gegründeten Leipziger Bibliophilen-Abend fortgesetzt. 
Am 26. Juni konstituiert sich die Pirckheimer-Gesellschaft als Verein nach Bürgerlichem Gesetzbuch. Ende Juli zieht das Büro von der Hessischen Straße in das Haus des Kulturbundes, Otto-Nuschke-Straße (bald wieder Jägerstraße), um. Die Sekretärin wird vom Kulturbund gekündigt und wechselt kurzfristig in eine neue Stelle. Am 29. September tagt in Berlin eine Außerordentliche Mitgliederversammlung, die eine überarbeitete Satzung beschließt und einen neuen Vorstand wählt, dem Wolfram Körner (Vorsitz), Herbert Kästner (Stellvertretender Vorsitzender), Horst Knebusch (Schatzmeister) und Hartmut Pätzke (Schriftführer) angehören. Der Vorstand hat das für Magdeburg und Wolfenbüttel geplante Jahrestreffen in diesem Jahr abgesagt, weil zu wenige Anmeldungen eingegangen sind. Die Gesellschaft zählt nach dem Beitritt von etwa 40 Mitgliedern aus dem Westen Deutschlands, einschließlich Berlin, 1250 Mitglieder. Der Mitgliedsbeitrag wird für 1991 auf 120 DM, für Studenten, Rentner und Arbeitslose auf 80 DM festgesetzt (Marginalien, 1991, H. 121). Zum Jahreswechsel kommt es zu massenhaften Austritten. Viele Mitglieder sehen nach der Entlassung oder Versetzung in den Vorruhestand sorgenvoll in die Zukunft. Andere orientieren sich beruflich und privat neu, wollen reisen oder anderen lange entbehrten Vergnügungen nachgehen, so daß in ihrem Leben für die Bibliophilie kein Platz mehr bleibt.
 Am 1. Juli eröffnen Ekkehard Hellwich und Peter Röske die Galerie der Berliner Graphik-Presse, die nach sechs Drucken unter dem Dach der Pirckheimer-Gesellschaft die Berliner Graphikpresse selbständig weiterführt (Marginalien, 1991, H. 120).

1991

Am 8. Januar gründet sich der Leipziger Bibliophilen-Abend neu, von 1904 bis 1933 eine der bedeutendsten Bibliophilenvereinigungen Deutschlands. Er tritt auch das Erbe der Pirckheimer-Bezirksgruppe an, das in der Schrift 35 Jahre Bibliophilie in Leipzig (1991) bilanziert wird. Die Vorstandsmitglieder der Pirckheimer-Gruppe werden zum Vorstand des neuen Vereins gewählt. Beim Vorstand der Gesellschaft in Berlin ist man mehrheitlich gegen die Ausgründung, weil durch sie die Gesellschaft geschwächt zu werden scheint. Doch der LBA bleibt der Pirckheimer-Gesellschaft eng verbunden, wie auch die meisten seiner Mitglieder weiterhin dem alten Verein treu bleiben. Der LBA zeichnet sich künftig durch eine unübertroffene Zahl qualitativ hochwertiger Drucke aus.
 Am 27. Januar tagen auf Initiative von Ute Wermer und Alexander Kerrutt in der Galerie Bellevue (Berlin-Tiergarten) erstmals nach 50 Jahren 25 Berliner Exlibris-Freunde aus West und Ost gemeinsam – Mitglieder der Deutschen Exlibris-Gesellschaft, der Pirckheimer-Gesellschaft und des Berliner Bibliophilen Abends (Marginalien, 1991, H. 121). Daraus wird eine Tradition jährlich ausgerichteter Exlibris-Treffen, meist zum Jahresende veranstaltet von Rainer Kabelitz. Neben kleinen Ausstellungen steht der Tausch von Blättern im Mittelpunkt.
 Im Haus des Kulturbundes in der Jägerstraße findet im Herbst der 17. und letzte Berliner Graphikmarkt statt, veranstaltet von der Galerie der Graphikpresse nur noch in Zusammenarbeit mit der Pirckheimer-Gesellschaft. Der Massenansturm ist Geschichte. Im Osten Berlins gibt es mittlerweile viele neue Galerien, die wie die zahlreichen Geschäfte im Westteil der Stadt um Kunden werben. Die Galerie zählt die von ihr in den eigenen Räumen veranstalteten Graphikmärkte in den folgenden Jahren weiter und hält an dem Schwerpunkt Kunst aus den neuen Bundesländern fest (Marginalien, 1996, H. 141).
 Am 14. Juni gründet sich die Gesellschaft der Stralsunder Buch- und Graphikfreunde e.V., die unter dem Vorsitz von Gisela Klostermann das Erbe der Pirckheimer-Gruppe Stralsund antritt. Bald gehören ihr rund 50 Mitglieder an, die fast alle nicht mehr Mitglied der Pirckheimer-Gesellschaft sind. Stralsund ist immerhin die einzige bibliophile Gruppe aus dem früheren Bezirk Rostock, die die Zeitenwende überlebt (Marginalien, 1998, H. 149).

1992

Am 21. März kommen im jetzt Club von Berlin genannten Kulturbundhaus, Jägerstraße 2-3, die Mitglieder zusammen, um die vom Amtsgericht beanstandete Satzung in überarbeiteter Form zu verabschieden. (Am 14. September kann dann endlich die Prozedur der Überführung in die nach Bürgerlichem Recht notwendige Organisationsform durch den Eintrag ins Vereinsregister abgeschlossen werden.) Die Mitgliederversammlung wählt einen neuen Vorstand, dem Wolfram Körner (Vorsitzender), der Historiker WK (Stellvertretender Vorsitzender), der Bauunternehmer Adolf Jahneke (Schatzmeister), Hartmut Pätzke (Schriftführer), der Angestellte Rainer Kabelitz und Herbert Kästner angehören (Marginalien, 1992, H. 127). 
Erstmals seit 1989 findet vom 17. bis 18. Oktober in Berlin und Potsdam wieder ein Jahrestreffen statt, zu dem sich rund 140 Mitglieder und Angehörige einfinden. Als Gabe wird die Mappe mit vier Graphiken gereicht, die zum abgesagten Jahrestreffen 1990 schon fertig vorlag. Den Festvortrag hält Richard Landwehrmeyer, erster Generaldirektor der vereinigten Staatsbibliothek zu Berlin, über die schwierige Zusammenführung der beiden Häuser in Ost und West. Höhepunkt ist die Besichtigung der Bibliothek Friedrichs II. im Schloß Sanssouci, zu der Hans-Joachim Giersberg, Generaldirektor der Staatlichen Schlösser und Gärten, die Teilnehmer empfängt. Mehrere Mitglieder haben kleine Ausstellungen vorbereitet. Ein Novum stellt ein bibliophiler Basar dar, auf dem Antiquare, Pressen, Verlage und auch Sammler Bücher und Graphik zum Kauf anbieten (Marginalien, 1993, H. 129).
 Nach dem Tod von Hans-Joachim Walch (1991) hat Heinz Hellmis, der frühere Künstlerische Leiter des Aufbau-Verlages, die Gestaltung der Marginalien übernommen und überrascht die Leser ab Heft 125 (1992) durch eine großzügige neue Gestaltung. Eine Serie von kleinen Porträts in den Marginalien (ab Heft 125) stellt neue Verlage aus den fünf neuen Bundesländern vor. Auch durch mehrere Beiträge von Paul Ritter über Frans Masereel mit zwei originalgraphischen Beilagen (1992, H. 127 und 128) wird der Marginalien-Jahrgang besonders attraktiv und trägt viel zur Besinnung der Pirckheimer-Gesellschaft auf ihre Kräfte bei.

1993

Das Jahrestreffen vom 15. bis 16. Mai führt die Teilnehmer nach Nürnberg und auf die Spuren des Namenspatrons Willibald Pirckheimer. Konrad Kratzsch referiert über Hartmann Schedel und seine Weltchronik, Eduard Isphording breitet im Germanischen Nationalmuseum Pressendrucke aus und Rudolf Rieß, der für die Teilnehmer ein Holzschnitt-Exlibris angefertigt hat, führt durch seine Werkstatt. In diesem Jahr hat die Gesellschaft mit 440 Mitgliedern ihren geringsten Mitgliederstand seit der Gründungszeit erreicht (Marginalien, 1998, H. 3). Doch die Rubrik »Neue Mitglieder« in den Marginalien zeigt, daß kontinuierlich neue Mitglieder besonders aus den alten Ländern gewonnen werden und auch viele ehemalige Mitglieder zur Gesellschaft zurückfinden. 
Wolfgang Rasch, Geschäftsführer der Stiftung Buchkunst in Frankfurt am Main, präsentiert am 11. März in Berlin und am 6. April in Leipzig erstmals wieder nach der deutschen Einheit die »Schönsten Bücher« des vergangenen Jahres (Marginalien, 1993, H. 131). Er wird zu einem gern gesehenen Gast in den verbliebenen Pirckheimer-Gruppen und lockt von Jahr zu Jahr mehr Besucher an. Neben dem Sonderfall Leipzig gibt es noch in Berlin (Berlin/Brandenburg; Leitung: Hartmut Pätzke), Halle/Saale (Hans-Georg Sehrt), Magdeburg (Jochen Bartels), Neubrandenburg (Gunter Ball) und Wittenberg (Elke Stiegler, bis 1995) Pirckheimer-Regionalgruppen, die mehrere Veranstaltungen im Jahr abhalten. Auch in Neustrelitz gibt es Pirckheimer, die sich unabhängig von Neubrandenburg in loser Folge zu Veranstaltungen zusammenfinden. In Dresden läuft der Graphikmarkt unter Beteiligung der Pirckheimer-Gesellschaft weiter.

1994

Am 23. und 24. April empfangen die Wittenberger Bibliophilen etwas mehr als 110 Mitglieder und Angehörige zum Jahrestreffen, das durch Vorträge über Signets der Wittenberger Verleger vom 16. bis 18. Jahrhundert (Heinrich Kühne) und Luther und das Bild (Horst Kunze) sowie den Besuch einer Cranach-Ausstellung, der Bibliothek des Evangelischen Predigerseminars und anderer städtischer Attraktionen gekennzeichnet ist. Im Gedächtnis der Teilnehmer bleibt aber auch eine überaus kontroverse Diskussion in der Mitgliederversammlung. Da Wolfram Körner aus Altersgründen für den Vorsitz nicht mehr zu Verfügung steht – er kann aus gesundheitlichen Gründen erstmals nicht an einem Jahrestreffen teilnehmen –, wird ein neuer allseits akzeptierter Vorsitzender dringend gebraucht. Schon im Vorfeld gab es deswegen Querelen, so daß mehrere Vorstandsmitglieder nicht mehr kandidieren. Die Wahl fällt auf Michael Faber, Mitinhaber des Verlages Faber & Faber. Ihm zur Seite stehen Wolfram Körner (Stellvertretender Vorsitzender), der Geologe Thomas Kaemmel (Schatzmeister), die Antiquarin Elke Stiegler (Schriftführerin) und der Germanist Fritz Jüttner. 
Im September gründet die Regionalgruppe Magdeburg einen selbständigen »Verein der Bibliophilen und Graphikfreunde Magdeburg und Sachsen-Anhalt e. V. ‚Willibald Pirckheimer‘«. Die meisten Mitglieder verlassen den alten Verein.

1995

Auf dem Jahrestreffen in Mainz am 27. und 28. Mai spricht Hans Mayer, Nestor der Germanistik, über Wandlungen des Humanismus, frei ohne Manuskript. Das mitlaufende Tonband faßt nicht die Länge der improvisierten Anmerkungen, die von Sparta über Erasmus von Rotterdam und Karl Marx bis zu Ernst Jünger, von Plato bis Mao und Khomeini reichen. Stephan Füssel referiert unter dem Titel Gutenberg goes electronic über die Probleme und Chancen im gerade anbrechenden Zeitalter des Internet. Hans Ticha hat im Gutenberg-Museum eine Ausstellung vorbereitet und erinnert sich aus diesem Anlass an das Büchermachen in der DDR. Eine graphische Speisekarte von ihm zählt zu den reichhaltigen Gaben des Treffens, zu denen auch vier Drucke der Gutenberg-Gesellschaft, von ihr gereicht, gehören. Um 30 Exemplare eines originalgraphischen Weinetiketts von Ticha entbrennt bei der abendlichen Versteigerung ein heftiges Bietgefecht, wobei die dazugehörige Flasche mit bestem heimischem Riesling »Hochheimer Kirchenstück« dankbar mitgenommen wird (Marginalien, 1995, H. 138). Die Mainzer Minipressen-Messe gibt reichlich Gelegenheit zu Entdeckungen und neuen Bekanntschaften.
Die Marginalien müssen in ein neues Haus wechseln. Der Aufbau-Verlag hatte kurzfristig zum Jahresende 1994 der Zeitschrift die Zusammenarbeit aufgekündigt. Der neue Verlag, Harrassowitz Wiesbaden, beweist schon im ersten Jahr, dass sie wirtschaftlich weiterzuführen ist. Aufgegeben werden muß der Bleisatz, in dem, von manchem Leser unbemerkt, bislang jedes Heft von der Offizin Haag Drugulin vollständig gedruckt war. Immerhin bleibt die »typographische Beilage« erhalten, mit der weiterhin Beispiele aus dem schier unerschöpflichen Schriftenvorrat der Offizin vorgestellt werden. Die Herstellung liegt künftig in der Hand von Jütte Druck Leipzig. Nach Marginalien-losen Monaten erscheinen im letzten Drittel des Jahres in rascher Folge die fehlenden Hefte.

1996

Am 11. Mai treffen sich auf Initiative des Zürcher Pirckheimer-Freundes und Antiquars Peter Petrej interessierte Mitglieder und der Vorstand zu einem »Bernauer Maigespräch«, um in der märkischen Kreisstadt über die Zukunft der Gesellschaft zu meditieren. Der Chronist (Fritz Jüttner) hebt hervor, daß die alten Ziele auch die neuen sind: das Engagement für das schöne alte und neue Buch, die Liebe zur Graphik, die Förderung des Sammelns bei Offenheit für weltanschaulich verschiedene Positionen. Auch über Nachwuchssorgen und finanzielle Nöte wird gesprochen (Marginalien, 1996, H. 143). 
Vom 6. bis 9. September finden sich in Berlin 127 Mitglieder und Angehörige zum Jahrestreffen ein, um ein besonders reichhaltiges Programm zu absolvieren. Eine Lesung von Günter de Bruyn aus seinen Memoiren, der Festvortrag von Dieter Beuermann über Leben und Wirken des Gründervaters seiner Firma, der Nicolaischen Verlagsbuchhandlung, Friedrich Nicolai, Werkstattgespräche mit dem Buchbindermeister Werner G. Kießig und dem Pressen-Verleger Christian Ewald (Katzengraben-Presse) bleiben ebenso in Erinnerung wie Besuche von zahlreichen Museen und Ausstellungen. Michael Faber gibt schon nach einer Amtszeit den Vorsitz wieder ab, weil er als Mitinhaber seines Leipziger Verlages beansprucht wird und es zu Spannungen mit dem Berliner Pirckheimer-Büro gekommen war. Den neuen Vorstand mit Bertram Winde (Physiker, Stellvertretender Vorsitzender), Konrad Hawlitzki (Bibliothekar, Schriftführer) und Thomas Kaemmel (Geologe, Schatzmeister) führt der Kunsthistoriker Hartmut Pätzke, zugleich Vorsitzender der Berlin-Brandenburger Gruppe (Marginalien, 1996, H. 144). Während der Turbulenzen nach dem Ende der DDR hat er sich Verdienste um den Erhalt der Gesellschaft erworben.
 Nach langer Zeit erhalten die Pirckheimer wieder eine selbstverlegte Jahresgabe: Dieter Hoffmann, Glockenspeise. Gedichte. Mit Zeichnungen von Gerhard Kettner. Der Dresdner Künstler zeichnete seine Illustrationen in das Manuskript, das ihm der Freund aus Frankfurt am Main gesandt hatte. Da Kettner inzwischen gestorben ist, erscheint das Buch nur mit den Kugelschreiber-Skizzen – »Einübungen und Annäherungen, nichts Endgültiges«, wie der Herausgeber Lothar Lang schreibt.

1997

Das Jahrestreffen findet vom 19. bis 21. September in Helmstedt und Wolfenbüttel statt, wo 112 Teilnehmer niedersächsische Bücherschätze kennenlernen. In Helmstedt führt der Lokalpatriot Rolf Volkmann durch Geschichte und Gegenwart der früheren Universitätsstadt mit vielen Denkmälern einstiger Größe, darunter einer ansehnlichen Universitätsbibliothek mit wertvollen Drucken von der Reformation bis zur Aufklärung. Für Wolfenbüttel mit Lessings Wohnhaus und den einmaligen Sammlungen der Herzog August Bibliothek, den spätmittelalterlichen Handschriften, den Malerbüchern und vielem anderen, bleibt nur allzu wenig Zeit (Marginalien, 1997, H. 148).

1998

Mit Heft 150 verabschiedet sich Lothar Lang nach jahrzehntelanger Wirkungszeit aus der Redaktion der Marginalien. Er übergibt am 7. Juli sein Amt dem Germanisten Carsten Wurm, der überwiegend skeptisch aufgenommen wird. Ihm zur Seite steht weiterhin das erfahrene Redaktionskollegium mit Herbert Kästner, Wolfram Körner, Friedhilde Krause, Horst Kunze und Hartmut Pätzke. In Halle übernimmt Wolfgang Kirsch, der schon einmal den Vorsitz innehatte, die Leitung der Pirckheimer-Gruppe und organisiert in den kommenden fünf Jahren eine große Zahl von Vortragsabenden, Ausstellungsbesuchen und Exkursionen.
 Das Jahrestreffen vom 19. bis 21. September gilt der bibliophilen Erkundung von Lübeck und Hamburg. In Lübeck wandeln die Teilnehmer natürlich auf den Spuren der Familie Mann, aber auch von Erich Mühsam, der dasselbe Gymnasium mit gleichermaßen mangelndem Eifer wie Heinrich und Thomas Mann besuchte. Der Heinrich-Mann-Experte Klaus Schröter hält im Buddenbrookhaus einen Vortrag über den Untertan, und Peter Rühmkorf liest aus Gedichten und Tagebüchern. Die Elke Rehder Presse stellt ihre Bücher vor, und Henning Wendland führt seine Sammlung mit Holzschnitten aus Büchern des 15. und 16. Jahrhunderts vor. In Hamburg stehen die Kunstwissenschaftliche Bibliothek Warburg und die Staats- und Universitätsbibliothek auf dem Programm. Ein Atelierbesuch führt zu Roswitha Quadflieg und ihrer Raamin-Presse. In den neuen Vorstand werden gewählt: der Lehrer Gunther Ball (Schriftführer), die Lehrerin Ursula Lang (Schatzmeisterin), Hartmut Pätzke (Vorsitzender), die Graphikerin Elke Rehder und der Physiker Bertram Winde (Stellvertretender Vorsitzender). Die Zahl die Mitglieder erreicht rund 550 (Marginalien, 1998, H. 151).

1999

Im August und September zeigt die Staatsbibliothek zu Berlin anläßlich des fünfte Todestages von Werner Klemke eine große Werkausstellung, die Axel Bertram und Hartmut Pätzke vorbereitet haben und Bertram auch gestaltet hat. Das Begleitbuch Werner Klemke. Wie man Bücher durch Kunst (un-?)brauchbar machen kann übernimmt die Pirckheimer-Gesellschaft von der Staatsbibliothek und reicht es, um einen Bogen mit Einzeichnungen von Klemke in Büchern von Pirckheimern erweitert, an die Mitglieder als Gabe. Der Gestalter Axel Bertram setzt den Text in seiner hier erstmals verwendeten neuen Schrift »Lucinde«.
 Das Jahrestreffen vom 18. bis 20. Juli führt nach Thüringen. In Saalfeld und Rudolstadt versammeln sich gut hundert Teilnehmer, um Saalfeld anläßlich des 1100-jährigen Stadtjubiläums und die nahegelegene ehemalige fürstliche Residenz Rudolstadt mit dem alles überragenden Schloß Heidecksburg kennenzulernen. Neben Museums-, Bibliotheksbesuchen und Stadtrundgängen beeindrucken Ausstellungen mit Stadtansichten aus dem Besitz von Peter Rudolf Meinfelder und mit Graphiken zu mythologischen Themen von Peter Arlt. Festvorträge von Peter Arlt und Carsten Wurm gelten der Mythosadaption in der Moderne beziehungsweise der Geschichte des bis 1993 in Rudolstadt ansässigen Greifenverlages (Marginalien, 1999, H. 155).

2000

Am 22. Juli tagt in Berlin eine Mitgliederversammlung, in der über Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Vorstand und der Redaktion Marginalien einerseits und dem Vorsitzenden andererseits diskutiert werden muß. In der intensiven Aussprache wird der autokratische Leitungsstil von Hartmut Pätzke kritisiert. Dem neu gewählten Vorstand gehören an: als Vorsitzender WK (Historiker), als Stellvertretender Vorsitzender Eckehart Schumacher-Gebler (Druck-Unternehmer), als Schatzmeister Klaus-Dieter Paul (Angestellter), Schriftführerin Carla Villwock (Landesgeschäftsführerin des Kulturbundes Brandenburg) und Peter Rudolf Meinfelder (Archivar/Lehrer). Da die Förderung einer Arbeitskraft durch den Senat ausgelaufen ist, muß der neue Vorstand seine Arbeit erstmals in der Vereinsgeschichte ohne Sekretariat erledigen (Marginalien, 2000, H. 159).
 Am 9. Dezember wird seit vielen Jahren auch in Berlin wieder ein neuer Vorstand gewählt, dem die Bibliothekarin Renate Gollmitz, der Historiker Jürgen Gottschalk und die Lehrerin Ursula Lang angehören. Der alte Vorsitzende, Hartmut Pätzke, verläßt zum Jahresende die Gesellschaft. 
Das Jahrestreffen gilt vom 15. bis 17. September dem 500. Geburtstag von Johannes Gutenberg und seiner Geburtsstadt Eltville am Rhein, wo in der Gutenberg-Gedenkstätte die Alte Florentiner Druckpresse für die rund 100 Teilnehmer in Gang gesetzt wird. Der Initiator des Treffens, der Eltviller Journalist Ferdinand Puhe, hat eine Weinverkostung organisiert, die er zu einer Begegnung mit der Weinkultur des Landes und dem mannigfaltigen Niederschlag des Weins in der Literatur ausweitet. Der Festvortrag von Eva-Maria Hanebutt-Benz, Direktorin des Gutenberg-Museums Mainz, führt zurück zu Gutenbergs Erfindung vor dem Hintergrund der frühen ostasiatischen Drucktechniken. Ein Ausflug nach Mainz bringt die Begegnung mit der Jubiläumsausstellung im Gutenberg-Museum. Die Pirckheimer-Gesellschaft zählt in diesem Jahr 571 Mitglieder, die bislang höchste Zahl seit dem Aderlaß nach der deutschen Vereinigung (Marginalien, 2000, H. 160).