Man wird erwachsen: Viele Traditionen der Pirckheimer haben ihr Wurzeln in diesem Jahrzehnt – typographische Beigaben der Marginalien, Fokus auf Grafik und Exlibris, Vernetzung ins Ausland.
1961
Die Gesellschaft verschickt an die Mitglieder als Neujahrsgabe Frans Masereel und das Buch. Damit beginnt eine lange Tradition von Publikationen, meist in den Marginalien, und Vorträgen auf Pirckheimer-Abenden über den flämischen Buchkünstler. Als Vermittler betätigt sich oft Theo Pinkus, der Antiquar und Bücherfreund in Zürich, der auch an mancher Veranstaltung der Gesellschaft teilnimmt und manchmal für die Marginalien schreibt. In Leipzig wird Anfang Mai die »Zentrale Arbeitsgemeinschaft der Graphiksammler« innerhalb der Pirckheimer-Gesellschaft gegründet. Sie will das Interesse an der Graphik wecken, die Kenntnis der graphischen Techniken verbreiten und das Sammeln anregen. Neben dem Sammeln von alten Blättern soll die Entwicklung der zeitgenössischen Graphik kritisch begleitet und unterstützt werden. Im Bericht von der Gründungsversammlung ist auch von einer geplanten »Pirckheimer-Presse« die Rede. Den Vorsitz übernimmt der Kupferstecher Heinrich Ilgenfritz, Dozent an der Hochschule für Graphik und Buchkunst. Ihm zur Seite stehen der Kunsthistoriker Werner Timm, Berliner Kupferstichkabinett, und Gabriele Meyer-Dennewitz, Mitarbeiterin des Ministeriums für Kultur. Die letztere wird wenig später ersetzt durch den Leipziger Graphiker und Universitätsprofessor Hans Schulze. Besonders Timm entfaltet eine rege Vortrags- und Publikationstätigkeit für die Pirckheimer-Gesellschaft (Marginalien, 1961, H. 12 und 13). Am 10. Februar findet in Berlin der wohl erste Pirckheimer-Abend zu den »Schönsten Büchern« des vergangenen Jahres statt (Marginalien, 1961, H. 12). Bruno Kaiser gehört von Anfang an zu den Juroren und leitet auch viele Jahre das einflußreiche Team, dem auch Albert Kapr, Werner Klemke, Horst Kunze, Ludolf Koven (Direktor des Akademie-Verlages) und andere Vorstandsmitglieder angehören. Veranstaltungen zu den »Schönsten Büchern« gehören bald zu den festen Programmpunkten in den sich allmählich vermehrenden Pirckheimer-Gruppen. Ein Berliner Klubabend am 28. April gilt Bibliophilen Kleinigkeiten aus dem Expressionismus, zu dem der Literaturhistoriker I. M. Lange seltene Drucke aus seinem Besitz mitgebracht hat. Der frühere Mitarbeiter der Buchhandlung »Die Aktion« bricht eine Lanze für die literarische und künstlerische Strömung, die von der offiziellen Kulturpolitik der DDR noch abwertend behandelt wird. Wie an vielen Abenden holt auch Bruno Kaiser aus seiner legendären »dicken Aktentasche« wichtige und ephemere Drucke zum Thema hervor (Marginalien, 1961, H. 12).
1962
Am 15. November spricht Wieland Herzfelde vor der Berliner Gruppe erstmals über die Geschichte seines Malik-Verlages (Marginalien, 1962, H. 14), viele weitere Malik-Abende mit und ohne ihn folgen in den kommenden Jahren und Jahrzehnten, wie überhaupt die Geschichte der linken Verlage der Weimarer Republik ein bevorzugtes Betätigungsfeld für Sammler und Marginalien-Autoren wird.
1963
Im Heft 13 der Marginalien schreibt Horst Kunze Über Werner Klemke, hauptsächlich als Buchillustrator, und Renate Gollmitz veröffentlicht die Bibliographie seiner illustrierten Bücher. Diese Publikation wird nicht nur zur Keimzelle für mehrere Buchveröffentlichungen von Kunze über Klemke, sondern auch zur Anregung für viele Sammler, die Arbeiten des überaus produktiven Buchkünstlers vollständig zusammenzutragen. Ab Heft 14 werden die Marginalien von der Offizin Andersen Nexö, früher Haag-Drugulin, hergestellt und ab Heft 16 (1964) vom Aufbau-Verlag vertrieben. Zugleich übernimmt Horst Erich Wolter, der künstlerische Leiter der Offizin, die Gestaltung. Der Gutenberg-Preisträger des Jahres 1959 gehört zu den einflußreichsten Buchgestaltern der DDR. Schon mit seinem ersten Heft eröffnet er die lange Folge von beigebundenen »typographischen Beilagen«, auf feinerem Papier gesetzte bedeutsame oder kuriose Texte rund um das Buch, für die aus dem Fundus der Offizin alte Schriften ausgewählt werden.
1964
Ab Heft 15 liegt die Redaktion der Marginalien für die nächsten 35 Jahre in den Händen des Kunsthistorikers Lothar Lang, seinerzeit Dozent am Institut für Lehrerweiterbildung Berlin-Weißensee (später Pankow). Dort veranstaltet er in den sechziger Jahren zahlreiche Ausstellungen und Lesungen von neuer Kunst und Literatur. Seit diesem Jahrgang erscheint die Zeitschrift in schöner Regelmäßigkeit ununterbrochen viermal im Jahr. Heft 15 wartet mit der Malik-Bibliographie von Heinz Gittig auf, die – auch an anderer Stelle gedruckt – zum Handwerkszeug von mehreren Sammlergenerationen wird.
1965
Bibliophile Freuden heißt die Ausstellung der Pirckheimer-Gesellschaft auf der Internationalen Buchkunst-Ausstellung im Leipziger Messehaus am Markt, die mit einer Silbermedaille ausgezeichnet wird. Die damaligen Besucher besticht vor allem die Qualität der Exponate, zu denen einer der seltensten Goethe-Erstdrucke gehört: Epigramme (Venedig 1790). Der heutige Leser des Ausstellungsberichts staunt mehr noch über die Aussteller, unter anderem Wieland Herzfelde, Bruno Kaiser und Jürgen Kuczynski, Hans Baltzer und Werner Klemke – allesamt Pirckheimer-Freunde (Marginalien, 1965, H. 21). Unter gleichen oder verwandten Titeln folgen in den kommenden Jahrzehnten zahlreiche ähnliche Ausstellungen von Schätzen aus den Bücherschränken der Mitglieder. Am Rande der iba tagt am 3. Juli in Leipzig erstmals seit 1959 eine Mitgliederversammlung, an der auch Besucher aus dem Westen wie Jan Tschichold (Schweiz) teilnehmen. Den neuen Vorstand unter dem Vorsitz von Bruno Kaiser bilden Alfred Ernst (Stadtrat in Leipzig), Günter Hess (Bundessekretariat des Kulturbundes), Lothar Lang, Ernst Kaemmel, Albert Kapr, Werner Klemke, Wolfram Körner (Chirurg), Erwin Kohlmann, Ludolf Koven und Horst Kunze (Marginalien, 1965, H. 21). Den Vorsitz der Leipziger Gruppe übernimmt Rudolf Vogel, Direktor des Zentralantiquariats.
1966
Auf dem XI. Internationalen Exlibris-Kongress in Hamburg wird am 28. Juli die Fédération Internationale de Sociétés d´Amateurs d´Exlibris (F.I.S.A.E.) gegründet. Neben der Deutschen Exlibris-Gesellschaft, die in diesem Jahr ihr fünfundsiebzigjähriges Bestehen feiert, gehört auch die Pirckheimer-Gesellschaft zu den Gründungsmitgliedern. In ihrem Namen überreichen Ernst Kaemmel und der Graphiker Hans Schulze eine von der Arbeitsgemeinschaft Graphiksammler herausgegebene Mappe mit Originalgraphiken von 18 Künstlern der DDR, darunter Ullrich Bewersdorff, Karl-Georg Hirsch, Heinrich Ilgenfritz, Rolf F. Müller, Hans Theo Richter, Max Uhlig, Heiner Vogel, Oswin Volkamer und Wolfgang Würfel (Marginalien, 1966, H. 24). Zu den alle zwei Jahre stattfindenden Kongressen darf auch künftig nur eine Delegation mit wenigen handverlesenen Mitgliedern reisen. Dennoch wirkt die Anbindung an die F.I.S.A.E. belebend auf die Pirckheimer-Gesellschaft. Kulturbund und staatliche Behörden fördern diese Kontakte, weil die DDR in jenen Jahren um ihre internationale Anerkennung wirbt und die gleichberechtigte Behandlung der Pirckheimer-Gesellschaft in der F.I.S.A.E. kurioserweise als diplomatischer Erfolg gewertet wird. Am 5. September übernimmt Rudolf Vogel, Direktor des Zentralantiquariats, die Leitung der Leipziger Ortsvereinigung. Am selben Tag veranstalten die Leipziger Pirckheimer-Freunde das erste »Messetreffen der Antiquare und Bibliophilen«, zu dem Horst Kunze einen vielbeachteten Vortrag Bibliophilie im Sozialismus hält, veröffentlicht im Heft 26 der Marginalien und 1970 auch als Gabe der Pirckheimer-Gesellschaft, splendid gestaltet von Walter Schiller. Darin holt er die Bibliophilie aus ihrem Nischendasein, befreit sie von dem Geruch der bürgerlichen Vereinsmeierei und weist ihr eine wichtige Funktion bei der Überwindung der Entfremdung des Menschen von sich selbst im Sinne des frühen Marx zu (Marginalien, 1967, H. 25). Die Pirckheimer-Gesellschaft veranstaltet einen »Wettbewerb für Exlibris und Graphik des kleinen Formats«, an dem sich 45 Graphiker der DDR beteiligen. Den ersten Preis für Graphik erhält der junge Dresdner Künstler Max Uhlig, den ersten Preis für Exlibris der Geraer Rolf F. Müller (Marginalien, 1966, H. 23). Die Ausstellung reist jahrelang durch die Klubhäuser und kleinen Galerien des Landes.
1967
Als Neujahrsgruß erhält jedes Mitglied laut Marginalien (1967, H. 26) einen Holzstich von Heiner Vogel und als Jahresgabe ein Exemplar eines von drei Drucken der Hochschule für Graphik und Buchkunst, allesamt später gesuchte Titel: Dietmar Debes, Georg Göschen (1965), Maxim Gorki, Das Mädchen und der Tod (mit Holzstichen von Heiner Vogel; 1961) und Isaak Babel, Fünf Erzählungen aus Budjonnys Reiterarmee (mit Illustrationen von Rainer Herold; 1966). Am 17. März veranstaltet die Pirckheimer-Gesellschaft in Berlin eine Buchauktion, um Mittel für besondere Pläne zu erhalten. Unter den von Mitgliedern gespendeten Drucken befindet sich die Erstausgabe des Briefwechsels zwischen Goethe und Schiller (1828/29) aus dem Besitz von Arnold Zweig und zuvor von Cäsar Flaischlen. Mit Unterbrechungen werden solche Auktionen bis heute zum Wohle der Vereinskasse veranstaltet. Meist können die Teilnehmer ihre Erwerbungen zu Schnäppchenpreisen nach Hause tragen. Jürgen Kuczynski, der eine rigorose Haltung beim Sammeln hat, sprach sich vor der Auktion strikt dagegen aus, ein Buch aus seinem Bestand, und sei es auch nur eine Dublette, für diesen Zweck abzugeben: »Eine der Grundlagen jeder Bibliothek ist der feste Entschluss, Bücher zu entleihen, aber niemals auszuleihen und erst recht nicht für irgendwelche guten Zwecke abzugeben« (Marginalien, 1967, H. 23).
1968
Das 3. Messetreffen in Leipzig vereinigt Wieland Herzfelde, Alfred Holz und Günter Billig (den künstlerischen Leiter von Philipp Reclam jun., Leipzig) zu einem Gespräch über die Lust, gute und schöne Bücher zu machen (Marginalien, 1968, H. 29). Mit dem 30. Heft (Juli 1968) ändert auf Vorschlag von Horst Kunze die Zeitschrift Marginalien ihren Untertitel in Zeitschrift für Buchkunst und Bibliophilie. Damit einher geht eine stärkere Orientierung auf Buchkunst des 20. Jahrhunderts und die Gegenwartsszene. Das Heft enthält die bald viel benutzte George-Grosz-Bibliographie von Lothar Lang. Mit ihr wird die lange Reihe der Künstlerbibliographien eröffnet, manche davon ist ein Vademekum des Sammlers. Aus Anlass des 60. Geburtstages von Herbert Sandberg gibt die Pirckheimer-Gesellschaft eine in Ganzleder gebundene, nummerierte Ausgabe eines seiner Hauptwerke heraus: Der Weg, mit 70 Reproduktionen und einer Originalradierung Selbstbildnis 1967 (Marginalien, 1968, H. 32). Während dieses Buch zum günstigen Preis erworben werden muß, erhalten die Mitglieder als Gabe wahlweise das Ständebuch von Hans Sachs und Jost Ammann oder die von Werner Klemke illustrierte Ausgabe Facezien des Florentiners Poggio, beide Ausgaben von Edition Leipzig, die eine in Leder, die andere in Halbpergament (Marginalien, 1969, H. 33).
1969
Als Neujahrsgruß versendet die Gesellschaft eine Radierung des Dresdner Graphikers Max Uhlig, zusätzlich können die Mitglieder in begrenzter Zahl eine Lithographie von Frans Masereel erwerben (Marginalien, 1969, H. 34). Die Jahresgabe bildet die bereits erwähnte Buchausgabe von Kunze, Bibliophilie im Sozialismus, mit Illustrationen von Hans Baltzer, Karl-Georg Hirsch, Werner Klemke und vielen anderen.
1970
Nach Hamburg 1966 und Como 1968 nimmt in Budapest zum dritten Mal eine Delegation der Pirckheimer-Gesellschaft an einem F.I.S.A.E.-Kongreß teil. Wiederum überreicht sie eine reich bestückte Mappe mit Exlibris von Karl-Georg Hirsch, Gerhard Kurt Müller, Hans Schulze, Heiner Vogel, Oswin Volkamer und anderen. Die Auflage ist mit 300 Exemplaren so hoch angesetzt, daß Mitglieder der Gesellschaft die Mappe erwerben können.